Nein, diese Datenbanken beweisen keine 65.000 Impftoten und Corona-Impfstoffe müssen nicht zurückgezogen werden

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  • Veröffentlicht am 12. August 2021 um 16:29
  • Aktualisiert am 13. August 2021 um 11:20
  • 7 Minuten Lesezeit
  • Von: Jan RUSSEZKI, AFP Deutschland
Tausende User haben seit Ende Juli eine Behauptung auf Facebook geteilt, wonach in den USA und in Europa "bei den Covid-Spritzen" bereits etwa 65.000 Todesfälle aufgetreten seien. Außerdem heißt es: Normalerweise würden Medikamente schon nach 50 ungeklärten Todesfällen vom Markt genommen. Die als Quelle herangezogenen Datenbanken zeigen aber ausdrücklich keinen belegten ursächlichen Zusammenhang zwischen Todesfällen und Impfungen. Auch die genannte 50er-Grenze gibt es weder in den USA noch in der Europäischen Union.

Etwa 2600 Facebook-User haben seit dem 27. Juli die Behauptung über die Todesfälle nach Impfungen und die Rücknahme von Medikamenten geteilt (hier, hier, hier).

In den Postings heißt es: "Normalerweise werden Medikamente bei 50 ungeklärten Todesfällen vom Markt genommen." Und außerdem: "Bei den Covid Spritzen, sind wir nun schon bei ca. 65.000 Toten, sowie 2,3 Millionen unerwünschten Nebenwirkungen. Dies sind nur die Zahlen für die USA und Europa. Stand 24.07.2021." Als Quellen werden die "US-CDC" und die "europ. Datenbank" genannt.

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Facebook-Screenshot: 09.08.2021

Woher kommt die 50er-Grenze in der Behauptung?

Keine dieser genannten Quellen belegt, dass Medikamente normalerweise bei 50 Todesfällen vom Markt genommen werden. Auch die US-Gesundheitsbehörden Centers for Disease Control and Prevention (CDC) und die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA), welche die europäische Datenbank für Impfnebenwirkungen betreibt, führen keine solche Zahl in Bezug auf den Rückruf von Medikamenten auf.

AFP hat deshalb selbst nach der Zahl gesucht. Im Google-Cache, in dem sich auch gelöschte Seiten für eine gewisse Zeit weiter finden lassen, stieß AFP zu dieser Behauptung auf eine Seite, die einen Professor Peter McCullough mit der Zahl in Verbindung bringt. Der Kardiologe McCullough ist AFP bereits in der Vergangenheit mit Falschbehauptungen aufgefallen (hier).

McCullough behauptete tatsächlich am 21. Juli in einem Podcast des US-Rechtspopulisten Stew Peters: "Ich denke, wir sollten uns an dieselben Standards halten, die wir immer für jedes einzelne Produkt hatten. Normalerweise sind es fünf unerklärliche Todesfälle: Sie erhalten eine 'Black-Box-Warnung'. 50: Es kommt vom Markt. Vielleicht wären es für einen weitverbreiteten Impfstoff 150 oder 200."

Bei den genannten "Black-Box-Warnungen" handelt es sich um von der US-Arzneimittelbehörde (FDA) herausgegebene Warnhinweise zu Arzneimitteln, die beim Verkauf auf der Medikamenten-Verpackung in schwarzen Kästen angegeben werden müssen. (Zu den FDA-Einschätzungen gleich mehr.)

Gibt es einen solchen Grenzwert bei deutschen Behörden?

AFP hat beim zuständigen Paul-Ehrlich-Institut (PEI) angefragt, das mit der übergeordneten EMA zusammenarbeitet.

PEI-Sprecherin Susanne Stöcker erklärte am 6. August in einer E-Mail: 

Die Sprecherin verwies weiterhin in Bezug auf Impfstoffe auf sogenannte Observed-versus-Expected-Analysen (Beobachtet-gegen-Erwartet-Analysen) in Zusammenarbeit mit der EMA. Dabei wird die statistisch erwartbare Anzahl von Krankheitssymptomen in der nicht geimpften Bevölkerung mit den von Geimpften gemeldeten Nebenwirkungen verglichen. "Es kann keine pauschale Zahl geben. Es geht immer um Einzelfallentscheidungen für jedes Arzneimittel", schrieb Stöcker.

Weiter erklärte sie: "Ergibt sich eine signifikant höhere Melderate für ein Ereignis nach Impfung, als es statistisch zufällig in einer vergleichbaren Population zu erwarten wäre, geht das Paul-Ehrlich-Institut von einem Risikosignal aus." Das Risiko würde dann zumeist mit Studien weiter untersucht werden. Sei der Nutzen für das Arzneimittel geringer als das mögliche Risiko einer schweren Komplikation, dann könne das Arzneimittel vom Markt genommen oder zunächst ein "Ruhen der Zulassung" verordnet werden.

Die Sprecherin nannte ein bekanntes Beispiel für eine solche Verordnung: Bei den Corona-Vektorimpfstoffen von Vaxzevria (zuvor Astrazeneca genannt) hatte es nach der Observed-versus-Expected-Analyse ein solches Risikosignal für Sinusvenenthrombosen in Kombination mit einer sogenannten Thrombozytopenie (TTS) gegeben. 

In dem Zusammenhang gab es in Deutschland 24 Todesfälle. Verboten haben EMA und PEI den Impfstoff aber nicht. Stöcker erklärte: "Obwohl tatsächlich Menschen in Folge eines solchen TTS gestorben sind, ist der Schutz der Impfung vor einem schweren Krankheitsverlauf, Krankenhausaufenthalt und möglicherweise Tod durch Covid-19 für die große Mehrheit der Menschen um ein Vielfaches höher als dieses Risiko, das bei circa einem Fall auf 100.000 Impfungen liegt. Für das TTS, nicht für das Versterben an TTS. Das Risiko ist noch viel niedriger."

Inzwischen sei TTS bei den Vektorimpfstoffen als seltene Nebenwirkung in die Produktinformation aufgenommen worden. Mehr Informationen über die seltene, aber schwerwiegende Nebenwirkung sind im Sicherheitsbericht des PEI vom 15. Juli zu lesen.

Was sagt die Europäische Arzneimittelagentur (EMA)?

AFP hat auch bei der EMA nach dem 50er-Grenzwert für einen Rückruf gefragt. Sprecher Ondrej Blazek erklärte in einer E-Mail vom 6. August: "Eine solche pauschale Regelung gibt es nicht, und uns ist nicht bekannt, woher diese Information stammen könnte."

Blazek erklärte das Verfahren: "Jeder Fallbericht sollte als Teil eines Puzzles betrachtet werden, wobei alle verfügbaren Daten berücksichtigt werden müssen, um das Bild zu vervollständigen. Zu diesen Daten gehören Spontanberichte aus aller Welt, klinische Studien, epidemiologische Untersuchungen und toxikologische Untersuchungen. Nur durch die Bewertung aller verfügbaren Daten lassen sich zuverlässige Schlussfolgerungen ziehen."

Auch die EMA veröffentlichte Daten zu einer Prüfung von Vaxzevria. Bei der Nutzen-Risiko-Bewertung (Seite 5) dieses Impfstoffes in Zusammenhang mit TTS berechnete die EMA das Risiko. Darin werden die ausgebliebenen Covid-19-Ereignisse von Geimpften über mehrere Monate mit Covid-19-bedingten Krankenhausaufenthalten, Intensiveinweisungen und Todesfällen verglichen. Auch die Hintergrundinzidenz, Wirksamkeitsdaten und gemeldete TTS-Fallzahlen wurden in die Rechnung miteinbezogen. Der Nutzen überwiegt laut Bericht das Risiko.

Ist das in den USA anders?

AFP hat auch die für Arzneimittel zuständige FDA nach dem 50er-Grenzwert gefragt. Am 11. August verwies Sprecherin Abby Capobianco auf mehrere Dokumente zur Marktrücknahme von Arzneimitteln. Die FDA kann tatsächlich auf Antrag Zulassungen entziehen. Die Formalien und Gründe sind hier, hier und hier näher erklärt. Keine dieser Seiten gibt eine 50er-Grenze für ein Arzneimittelverbot an.

Abby Capobianco wies auch auf Zusammenfassungen der US-Gesundheitsbehörde CDC hin, mit der die FDA zusammenarbeitet. Dort heißt es, dass schwerwiegende Sicherheitsprobleme mit Impfstoffen bisher selten gewesen seien. Es habe bisher nur zwei Arten gegeben: Anaphylaxie, also eine allergische Reaktion, die bei jeder Impfung auftreten könne, und Thrombose mit Thrombozytopenie-Syndrom (TTS). Letztere seltene Nebenwirkung führen die US-Gesundheitsbehörden bei 39 Menschen (bei insgesamt 13 Millionen verabreichten Impfdosen) auf den Janssen-Vektorimpfstoff zurück (mehr hier im Bericht). PEI und EMA bezogen sich auf den Astrazeneca/Vaxzevria-Impfstoff. Eine 50er-Grenze taucht auch bei der CDC nirgends auf.

Insgesamt stuft die CDC nach ständiger Prüfung der Vaers-Datenbank, klinischen Daten, Totenscheinen, Autopsien und Krankenakten die verschiedenen Covid-19-Impfstoffe weiter als "sicher und wirksam" ein. Dabei wurden wie auch in Europa Observed-versus-Expected-Analysen durchgeführt. Der Janssen-Vektorimpfstoff wird nach der Prüfung erst ab 18 Jahren empfohlen.

Stimmen die aktuellen Fallzahlen in der Behauptung?

Die Facebook-Postings behaupten außerdem, dass in den USA und in Europa bis zum 24. August etwa 65.000 Tote "bei Covid-Spritzen" gestorben seien.

Die in der Behauptung als Quelle aufgeführte US-Datenbank des CDC heißt "Vaccine Adverse Event Reporting System"(Vaers). Dort können alle Nebenwirkungen nach Corona-Impfungen melden.

Einen ursächlichen Zusammenhang beweisen diese Zahlen aber nicht. Die gemeldeten Daten sind nämlich nicht geprüft. In einem Disclaimer, den User vor einer Datenabfrage akzeptieren müssen, heißt es: "Die Datenbank [...] Vaers enthält Informationen über nicht verifizierte Berichte über unerwünschte Ereignisse [...] nach Impfungen mit in den USA zugelassenen Impfstoffen. Berichte werden von jedermann akzeptiert und können elektronisch [...] eingereicht werden." Und weiter heißt es zur Qualität der Daten: "Die Berichte können Informationen enthalten, die unvollständig, ungenau, zufällig oder nicht überprüfbar sind."

Ein prominentes Beispiel für die Qualität der eingetragenen Daten ist ein in der Datenbank veröffentlichter Eintrag, in dem ein Nutzer Symptome angegeben hatte, die einer Verwandlung in die Marvel-Comicfigur "Hulk" entsprachen. Der Eintrag wurde mittlerweile gelöscht. AFP widerlegte im Mai weiterhin die Behauptung, ein Fall aus der Vaers-Datenbank belege für Säuglinge tödliche mRNA-Impfnebenwirkungen.

In der aktuell verbreiteten Behauptung ist ebenfalls kein Kausalzusammenhang nachgewiesen. Außerdem stimmen die Zahlen aus der Behauptung nicht. Seit Impfbeginn am 14. Dezember 2020 bis zum 10. August wurden laut Vaers-Abfrage 5814 Todesfälle und 451.866 nicht tödliche Nebenwirkungen im zeitlichen Zusammenhang mit einer Covid-19-Impfung gemeldet. Von 65.000 ist keine Rede.

Genauer sind die Angaben der CDC selbst. In einem am 2. August aktualisierten Bericht zu den Nebenwirkungen nennen die CDC 6490 Todesfallberichte nach Corona-Impfungen. Bei 346 Millionen verimpften Dosen bewerten die CDC Todesfälle  mit einem Anteil von 0,0019 Prozent an der Gesamtzahl der Geimpften als "selten".

Die Zahlen für Europa stimmen ebenfalls nicht

Auch die Datenbank der EMA sammelt gemeldete Nebenwirkungen nach Corona-Impfungen für die EU. Dazu melden die nationale Behörden Nebenwirkungen an das "EudraVigilance". Sie sind dann in der Datenbank für die jeweiligen Impfstoffe einzeln abrufbar.

Auch diese Daten beweisen keinen ursächlichen Zusammenhang zur Impfung und enthalten auch Doppelnennungen von Symptomen in Bezug Einzelpatientinnen und -patienten. Die Datenbank selbst weist darauf hin (hier, hier). Die echte Gesamtzahl der Todesfälle sei immer geringer als die Fälle in der Datenbank, heißt es in einer Warnung.

Selbst unter Einbezug von Doppelnennungen wurden nur 21.310 Reaktionen mit tödlichem Ausgang an die EMA für alle vier Corona-Impfstoffe seit Impfbeginn bis zum 10. August gemeldet.

Insgesamt sind das in den USA und in der EU also weniger als 27.800 Meldungen von Todesfällen, deren ursächlicher Zusammenhang zu Impfungen weiterhin überhaupt nicht belegt ist.

Fazit

Die Behauptung, dass normalerweise Medikamente bei 50 ungeklärten Todesfällen vom Markt genommen würden, ist falsch. So einen Grenzwert gibt es weder in den USA noch in der EU.

Auch die auf Facebook behaupteten Todesfallzahlen nach Corona-Impfungen sind falsch. US- und EU-Datenbanken listen wesentlich weniger dieser Fälle als behauptet auf. Einen ursächlichen Zusammenhang zur Corona-Impfung beweisen diese außerdem nicht.

13. August 2021 Inhaltlichen Fehler in Bezug auf die Verortung der "Black-Box-Warnungen" korrigiert und Link hinzugefügt.

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