Diese Studie sagt nicht aus, wie viele Menschen aus Tschetschenien in Österreich eine Arbeit haben
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- Veröffentlicht am 1. Dezember 2020 um 15:30
- Aktualisiert am 1. Dezember 2020 um 15:36
- 3 Minuten Lesezeit
- Von: Eva WACKENREUTHER, AFP Deutschland
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Ende Oktober veröffentlicht die rechte Website "unzensuriert" einen Artikel und teilt ihn auf Facebook. Der Titel des Textes: "Nur fünf Prozent der tschetschenischen Einwanderer gehen arbeiten". Mehr als 180 Nutzerinnen und Nutzer teilen den Post. Der Link taucht auch hier, hier oder hier auf.
Ein kurzer Rückblick: Während und nach den zwei Tschetschenien-Kriegen, die in den 90er Jahren begonnen hatten, kam es zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen im Land, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung in Deutschland. Viele Menschen flüchteten damals nach Österreich. Die in Österreich bestehende Diaspora sei „eine der größten Exilgemeinden dieser Volksgruppe in Europa“, hält der österreichische Verfassungsschutzbericht 2010 fest. Heute ist die Republik Tschetschenien eine von 85 russischen Republiken. Geschätzt leben in Österreich heute etwa 35.000 Tschetscheninnen und Tschetschenen. Die rechtspopulistische Partei FPÖ fordert immer wieder die Abschiebung von tschetschenischen "Integrations-Saboteuren", wie die Partei schreibt.
Auch die von "unzensuriert" gewählte Überschrift scheint in dieses Narrativ zu passen. Der aktuell geteilte Blog-Artikel bezieht sich dabei auf eine Studie des Instituts "Synthesis", das die Forschungsschwerpunkte Arbeitsmarkt und Inklusion hat. Synthesis hat 2020 im Auftrag des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) tatsächlich eine Untersuchung zu den Beschäftigungsverläufen von Migrantinnen und Migranten erstellt, "Erwerbsverläufe von Migrant/innen II" ist der Titel des Berichts, um den es auch im verbreiteten Blog-Artikel geht.
Die Studie bezieht sich aber nicht auf alle tschetschenischen Einwanderinnen und Einwanderer und auch nicht auf alle in Österreich lebenden Personen mit tschetschenischem Hintergrund. Sammel-Daten über diese Gruppen gibt es nicht. AFP hat das österreichische Arbeitsmarktservice zu aktuellen Zahlen befragt. Eine Sprecherin antwortet am 27. November: "Leider gibt es von Tschetschenen keine Arbeitsmarktdaten. Statistisch werden nur Nationalitäten erfasst." Österreich erfasst die Arbeitssituation dieser Migrationsgruppe also gar nicht.
Auch die Forscherinnen und Forscher von Synthesis haben das nicht getan. Sie greifen stattdessen auf eine Arbeitsdefinition zurück, um sich mit der Situation der Volksgruppe analytisch zu befassen. Sie zählen etwa Geflüchtete mit einer russischen Staatsbürgerschaft als Tschetschenen. Sie nutzen also erstmal nur einen Richtwert und keine tatsächliche Messung, um sich der tatsächlichen Zahl der tschetschenischen Einwandernden zu nähern.
Die Studie beschäftigt sich dabei auch nicht mit der Arbeitsmarktsituation aller Menschen mit tschetschenischem Hintergrund, so wie die Postings suggerieren. Sie untersucht lediglich, wie schnell es bestimmten Zuwanderungsjahrgängen gelingt, auf dem österreichischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
AFP hat einen der Studienautoren, Günter Kernbeiß, nach seiner Einschätzung des Artikels gebeten. Er schreibt Ende November, dass die Studie nur eine sehr kleine Gruppe (im Jahr 2016 sind es 416 Personen) untersuche und die so entstehenden Ergebnisse nur im Vergleich zu den in der Studie ebenfalls untersuchten Einwanderungsgruppen von 2007 oder 2015 einen Sinn ergeben würden. Außerdem hätten von den 416 Personen drei Jahre später nur noch rund ein Drittel (154 Personen) ihren Hauptwohnsitz überhaupt in Österreich. Zur Überschrift von "unzensuriert" schreibt er deshalb: "Ich stimme der Überschrift NICHT zu."
Nach einem Faktencheck von "EUfactcheck" ändert "unzensuriert" sein Facebookposting und verweist im Artikel auf einen Text der Tageszeitung "Kurier", der sich ebenfalls mit der Studie beschäftigt. "5 Prozent der Tschetschenen, die sich seit 2016 in Österreich aufhalten, gehen einer Arbeit nach", steht dort. Auch diese Eingrenzung auf das 2016 sei allerdings nicht exakt, sagt Kernbeiß: "Es ist sicher keine ‚Gesamtaussage‘ zu den in Österreich lebenden tschetschenischen Männern, schon gar nicht in Bezug auf die im Kurier genannten 35.000, aber auch nicht auf alle seit 2016 Zugewanderten."
Was die Studie sagt: Aus der untersuchten Gruppe gingen drei Jahre nach der Zuwanderung 6,7 Prozent der Männer und 3,2 Prozent der Frauen einer Arbeit nach. Im Durchschnitt sind das 4,5 Prozent. Das ist ein schlechterer Wert als jener von anderen in der Studie untersuchten Gruppen. Der Integrationsprozess dauert bei den Tschetscheninnen und Tschetschenen länger, schreibt Forscher Kernbeiß. Zwölf Jahre nach der Zuwanderung arbeiten aber rund ein Drittel der untersuchten Frauen und 54,7 Prozent der Männer.
Fazit: Obwohl es richtig ist, dass Tschetscheninnen und Tschetschenen in Österreich Schwierigkeiten bei der Integration in den Arbeitsmarkt haben, sind Schlüsse aus einer zitierten Studie nicht auf die gesamte Bevölkerungsgruppe übertragbar. Zu der liegen keine Daten vor. Der Studienautor selbst schreibt AFP, dass die Ergebnisse nicht so gelesen werden können und auch für die seit 2016 Zugewanderten nur eingeschränkt übernommen werden können.