Nein, das Bundesverfassungsgericht hat nicht alle Wahlen seit 1956 für nichtig erklärt

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  • Veröffentlicht am 22. September 2021 um 15:18
  • 4 Minuten Lesezeit
  • Von: Saladin SALEM, AFP Deutschland
Hunderte User auf Facebook und Tausende auf Telegram haben seit August eine Behauptung gesehen, wonach alle deutschen Wahlen seit dem 7. Mai 1956 ungültig gewesen seien. Das habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einem Urteil bereits 2012 entschieden. Tatsächlich bezog sich dieses herangezogene Urteil aber lediglich auf die Sitzverteilung im Bundestag. Der Bundeswahlleiter teilte mit: Das Bundeswahlgesetz behielt nach dem Urteil seine Gültigkeit, auch die anstehenden Bundestagswahlen sind gültig.

Hunderte Nutzerinnen und Nutzer haben die Behauptung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf Facebook geteilt (hier, hier, hier). Auf Telegram sahen Tausende die Nachricht (hier, hier).

Die Falschbehauptung: Seit dem 7. Mai 1956 seien alle Wahlen, die in Deutschland stattgefunden haben, ungültig gewesen. Das habe das Bundesverfassungsgericht am 25. Juli 2012 entschieden. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland sei damit illegal im Amt. Zudem sei die Abgabe einer Erst- und Zweitstimme bei den Wahlen verfassungswidrig. Der Artikel 38 des Grundgesetzes bestimme, dass alle Wahlverfahren gleich ablaufen müssten. Es handele sich bei der Stimmabgabe aber um zwei verschiedene Wahlverfahren. Daher sei das Wahlrecht bereits seit 1956 außer Kraft gesetzt. Im rechtlichen Sinne gebe es daher keinen Bundestag.

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Facebook-Screenshot der Falschbehauptung: 21.09.2021

Immer wieder verbreiten Nutzerinnen und Nutzer Behauptungen, die die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Gesetze untergraben sollen. Zuletzt entkräftete AFP etwa die Aussage, Deutschland sei nach wie vor ein besetztes Land.

Was hat das Bundesverfassungsgericht 2012 verkündet?

Am 25. Juli 2012 urteilte das Bundesverfassungsgericht über eine damals geplante Neuregelung des Sitzzuteilungsverfahrens für die Wahlen zum Deutschen Bundestag. Hunderte Bundestagsabgeordnete der Parteien SPD und Bündnis 90/Die Grünen hatten zuvor eine verfassungsrechtliche Prüfung dieser Änderung des Bundeswahlgesetzes beantragt, welches durch eine Regierungskoalition aus FDP und CDU/CSU auf den Weg gebracht worden war (mehr dazu hier, hier). Das Gericht befand das darin enthaltene Sitzzuteilungsverfahren in seiner Urteilsverkündung als verfassungswidrig.

Wie aus einer Mitteilung des BVerfG vom selben Tag hervorgeht, hatten die Richter entschieden, "dass das mit der Änderung des Bundeswahlgesetzes (BWG) neu gestaltete Verfahren der Zuteilung der Abgeordnetensitze des Deutschen Bundestages gegen die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien verstößt." Der Umfang der durch das neue Verfahren anfallenden Überhangmandate würde "den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl" aufheben. Von einer Ungültigerklärung der Wahlen oder einer illegitimen Regierungsbildung ist in dem Urteil allerdings nicht die Rede.

Auf AFP-Anfrage vom 22. September erklärte auch Prof. Dr. Michael Brenner vom Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Universität Jena: Ihm sei nicht bekannt, dass die Wahlen zu diesem Anlass für ungültig erklärt worden seien. Das Bundesverfassungsgericht habe das Wahlrecht korrigiert und "Ausgleichsmandate eingefordert". Die Gültigkeit der Wahlen sei aber nicht in Frage gestellt worden.

Bereits 2008 erklärte das Bundesverfassungsgericht Regelungen des Bundeswahlgesetzes zu negativem Stimmgewicht und daraus resultierenden Überhangmandaten für verfassungswidrig und forderte eine verfassungsmäßige Überarbeitung spätestens bis zum 30. Juni 2011. Eine "Auflösung des 16. Deutschen Bundestages" oder eine Ungültigerklärung der Wahlen stand laut der Richterinnen und Richter schon damals außer Frage. So hieß es:

Der aktuelle Stand

Der Bundeswahlleiter hat sich aktuell ebenfalls zu den dennoch entstehenden Ungültigkeits-Behauptungen geäußert, die sich auf jenes das Urteil aus 2012 beziehen. Auf der Webseite der Behörde heißt es, das Urteil habe zwar das Sitzverteilungsverfahren, wie es im Bundeswahlgesetz geregelt war, in Teilen für verfassungswidrig erklärt. "Das Bundeswahlgesetz blieb im Übrigen hiervon unberührt – also gültig. Insbesondere sind die vergangenen Wahlen nicht für ungültig erklärt worden", schreibt der Bundeswahlleiter.

Das Verfahren zur Berechnung der Sitzverteilung wurde zuletzt am 14. November 2020 per Bundeswahlgesetz geändert. Darin heißt es unter anderem, dass künftig bis zu drei Überhangmandate nicht durch ausgleichende Mandate ins Gleichgewicht gebracht werden müssen (mehr dazu hier, hier).

Ein Eilantrag der Opposition gegen diese Änderung hatte Bundesverfassungsgericht zuletzt abgelehnt. Abgeordnete der FDP, Grünen und der Linken hatten darin gefordert, einen Teil der Gesetzesänderung bei der kommenden Wahl nicht anzuwenden.

2022 soll die Wahlrechtsreform neu verhandelt werden. Das Hauptverfahren steht demnach noch bevor. (hier, hier)

Was sagt das Grundgesetz zum Wahlverfahren?

Im Artikel 38 des deutschen Grundgesetzes heißt es: "Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt." Prof. Dr. Niels Peterson, Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht an der Universität Münster, sieht die Gleichheit der Wahl auf Basis des Artikels 38 nach wie vor gegeben. Juristische Debatten zur Verfassungswidrigkeit der Abgabe einer Erst- und Zweitstimme seien ihm nicht bekannt, erklärte er am 22. September in einem Telefonat mit AFP.

"Jeder Bürger hat die gleiche Erst- und Zweitstimme und wird gleich behandelt." Auch der Bundestag habe seine Legitimierung. Diese sei "ausdrücklich im Grundgesetz geregelt." Die Behauptungen seien ohne jeden Basis.

Das bestätigte auch Prof. Dr. Huber am 22. September auf AFP-Anfrage. Huber lehrt Öffentliches Recht an der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist seit 2010 Richter im zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts. "Die Auslegung von Art. 38 GG ist falsch. Der Bundestag ist ein Verfassungsorgan und existiert nach Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG bis zum Zusammentritt des nächsten Bundestages."

Fazit: Die Wahlen sind gültig. Das BVerfG hat nie etwas anderes entschieden, auch wenn es tatsächlich einen Rechtsstreit über das Problem der Überhangmandate gibt. Der Bundeswahlleiter sowie unabhängige Experten bestätigten die Gültigkeit der Wahlen.

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