Stimmzettel mit abgeschnittener Ecke werden nicht ungültig und Wahlurnen müssen nicht versiegelt sein

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  • Veröffentlicht am 28. September 2021 um 15:35
  • Aktualisiert am 1. Oktober 2021 um 14:55
  • 5 Minuten Lesezeit
  • Von: Jan RUSSEZKI, AFP Deutschland
Hunderte Nutzerinnen und Nutzer haben ein Video auf Facebook geteilt, das einen Mann beim Wählen zeigt. Dabei will dieser einen Wahlbetrug aufgedeckt haben: Die obere rechte Ecke seines Wahlzettels fehlt und sei seiner Ansicht nach damit ungültig. Auch sei eine fehlende Versiegelung der Wahlurne nicht rechtens. Im Video sind allerdings keine Verstöße gegen das Bundeswahlgesetz zu sehen. Der Bundeswahlleiter erklärte: Die Ecke fehlt, damit auch Blinde mit einer Schablone wählen können und Wahlurnen müssen nicht versiegelt sein.

Hunderte User haben das Wahlbetrugsvideo seit dem 27. September 2021 auf Facebook geteilt (hier, hier). Auf Telegram erreichte es Tausende (hier).

Die Falschbehauptung: Das Video zeigt einen Mann beim Wählen, der die Wahlhelferinnen darauf hinweist, dass die obere rechte Ecke seines Stimmzettels fehlt und die Wahlurne nicht versiegelt ist. Der Mann im Video sagt: "Der [Wahlzettel] darf nicht verändert werden. Der Wahlzettel ist so nicht gültig." Und: "Die Wahlurne ist auch nicht versiegelt, da muss ein amtliches Siegel drauf. Das ist Wahlbetrug!"

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Facebook-Screenshot. 28.09.2021

Schon im Vorfeld der Bundestagswahl am 26. September 2021 hatte es Vorwürfe vermeintlicher Wahlmanipulation gegeben. So wurde etwa die Briefwahl fälschlich als leicht zu manipulieren dargestellt (hier, hier). Auch während der Stimmabgabe des Kanzlerkandidaten Armin Laschet kam es zu Ungenauigkeiten, die wiederum zu Falschbehauptungen führten. AFP hat diese hier geprüft. Dabei stand vor allem ein offenes Vorhängeschloss an der Wahlurne im Fokus, das vermeintlich gegen die Gesetze zur Wahl verstoßen würden. Auch die aktuelle Siegel-Behauptung reiht sich in diese Erzählung ein und wurde bereits hier widerlegt.

Sind die Stimmzettel mit der fehlenden Ecke ungültig?

Bereits am Ende des Videos selbst erklärt ein gezeigter Wähler dem Videomacher in einer sehr kurzen Szene des 19-minütigen Videos, dass die obere rechte Ecke des Stimmzettels fehle, damit auch Blinde mit einer Schablone wählen können. Auch Facebook-User weisen in ihren Posts auf diese Erklärung hin, nehmen sie aber nicht ernst. So heißt es in oben genannten Postings etwa: "Und die Erklärung, warum die Ecke abgeschnitten war, war der Oberknaller! FÜR BLINDE!!! Das neue Wort für schlafende Schafe."

Dabei ist genau das die richtige Erklärung: Im Paragrafen 45 der Bundeswahlordnung heißt es: "Zur Verwendung von Stimmzettelschablonen wird die rechte obere Ecke des Stimmzettels gelocht oder abgeschnitten."

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband erklärt auf seiner Seite, dass die abgeschnittene Ecke hilft, blinden und sehbehinderten Wählerinnen und Wählern die Schablone passgenau auf den Wahlzettel zu positionieren und ihr Kreuz an der richtigen Stelle zu setzen.

Der Bundeswahlleiter erklärt das auch auf einer Internetseite zu Desinformationen zur Bundestagswahl. Dort heißt es: "Dies stellt keinen Fehler dar. [...] Es ist eine Tasthilfe für Blinde und Sehbehinderte. Mithilfe einer eigens dafür angefertigten Stimmzettelschablone können Betroffene somit selbstständig und geheim wählen."

Sind Siegel für Wahlurnen Pflicht?

Die Behauptung des Wählers im Video, dass die Wahlurne versiegelt sein müsse, da es sich sonst um Wahlbetrug handele, verwirrt die Wahlhelferin. Auch sei die Urne nicht ausreichend gesichert, weil sie sich mit "ein bissel Gewalt" öffnen ließe. Die Helferin, die nach eigenen Angaben im Video zum ersten Mal eine Wahl begleitet, ruft vor laufender Kamera jemanden an, um sich über eine angebliche Siegelpflicht zu informieren. Nach dem Telefonat versiegelt sie die Wahlurne nachträglich, obwohl sie dabei sagt, "wir sollen das eigentlich nicht machen". Es gibt tatsächlich keine Pflicht, Wahlurnen zu versiegeln.

Im Bundeswahlgesetz heißt es in Paragraph 33: "Für die Aufnahme der Stimmzettel sind Wahlurnen zu verwenden, die die Wahrung des Wahlgeheimnisses sicherstellen."

In Paragraph 51 heißt es dann: "Die Wahlurne muss mit einem Deckel versehen sein. Ihre innere Höhe soll in der Regel 90 cm, der Abstand jeder Wand von der gegenüberliegenden mindestens 35 cm betragen. Im Deckel muss die Wahlurne einen Spalt haben, der nicht weiter als 2 cm sein darf. Sie muss verschließbar sein."

In Paragraph 53 heißt es: "Der Wahlvorstand überzeugt sich vor Beginn der Stimmabgabe davon, dass die Wahlurne leer ist. Der Wahlvorsteher verschließt die Wahlurne. Sie darf bis zum Schluss der Wahlhandlung nicht mehr geöffnet werden."

Eine Sprecherin des Bundeswahlleiters erklärte auf AFP-Anfrage am 27. September am Telefon:
"Wie sie verschlossen wird, ist nicht festgelegt. Es muss kein Schloss davor hängen und auch kein Siegel."

Weiter erklärte sie: "Der Wahlvorsteher beaufsichtigt die Urne mit seinen Wahlhelfenden durchgängig, deswegen ist keine Wahlmanipulation möglich." Eine Wahlurne muss also weder mit einem Schloss verriegelt noch mit einem Siegel gesichert sein.

Ähnliche Aussagen veröffentlichte der Bundeswahlleiter auch auf einer Internetseite zu Desinformationen zur Bundestagswahl.

Auf der Facebookseite von AFP-Faktencheck hat ein Leser außerdem auf ein Formular in der Bundeswahlordnung hingewiesen, das die Vorbereitung der Wahlurne dokumentiert. Dort lassen sich die Punkte “versiegelt” und “verschlossen; der Wahlvorsteher nahm den Schlüssel in Verwahrung” ankreuzen. AFP hat daraufhin noch einmal beim Bundeswahlleiter zu dieser Regelung nachgefragt.

Am 1. Oktober bestätigte eine Sprecherin in einem Telefonat: Siegel und Schlösser seien nicht vorgeschrieben. „Dies ist dem Umstand geschuldet, dass es immer wieder neue Materialien und Techniken zum Verschließen gibt. Diese könnten in den wahlrechtlichen Vorschriften nicht vollumfänglich abgebildet werden“, schrieb sie auch in einer E-Mail an AFP..

Das könne dazu führen, dass die beiden Kästchen zur Versiegelung und zum Schlüsselschloss in dem Formular frei bleiben könnten. Sie seien nur eine Ergänzung. „Es gibt auch Verschlussvorrichtungen ohne Schlüssel und Siegel – zum Beispiel eine Verplombung. Dabei muss die Wahlurne wie ein Sparschwein nach der Wahl aufgebrochen werden“, sagte eine Sprecherin des Bundeswahlleiters. Solch ein Verschluss müsse anderweitig vermerkt werden. Das Formular sei dafür nur ein Muster, das in den einzelnen Regionen angepasst oder auch selbst geschrieben werden könne. Der Deckel und das Gehäuse müssten aber gemeinsam verschlossen werden und dürfen nicht vor Ende der Wahl geöffnet werden.

Ist das Filmen der Stimmabgabe in der Wahlkabine erlaubt?

Im Video ist zu sehen, wie der Filmende in der Wahlkabine seine Stimme abgibt. Für einen Moment ist auch der Stimmzettel nach der Stimmabgabe ungefaltet zu sehen. Das ist verboten.

Der Bundeswahlleiter erklärt auf seiner Internetseite: "In der Wahlkabine darf weder fotografiert noch gefilmt werden. Auch außerhalb der Wahlkabine kann der Wahlvorstand Foto- und Filmaufnahmen im Wahlraum unterbinden. Das dient dem Schutz des Wahlgeheimnisses. Niemand soll nachvollziehen können, welche Person für welche Wahlvorschläge gestimmt hat. Das Wahlgeheimnis ist verletzt, sobald der ausgefüllte und in die Urne geworfene Stimmzettel einer Person zugeordnet werden kann."

Die mögliche Konsequenz: "Verstößt eine Person gegen diese Vorgaben und nimmt sie die eigene oder eine fremde Stimmabgabe auf, so ist der Wahlvorstand verpflichtet einzuschreiten. Er verweigert die Entgegennahme des Stimmzettels und kann Personen, die das Wahlgeheimnis gefährden, aus dem Wahlraum verweisen." Der Stimmzettel muss "vernichtet" werden. Danach kann aber erneut gewählt werden.

Fazit: Das Video beweist keinen Wahlbetrug. Ganz im Gegenteil: Es zeigt, dass die Wahlzettel mit der abgeschnittenen Ecke ordnungsgemäß an die Schablonen für Blinde und Sehbehinderte angepasst sind, um ihnen eine selbstständige und geheime Wahl zu ermöglichen. Auch ist ein Siegel auf den Wahlurnen keine Pflicht. Die Wahlurne im Video verstößt nicht gegen die Gesetze zur Bundestagswahl. Beides wird auch im Video selbst in sehr kurzen Szenen thematisiert, aber von Internetusern als Erklärung bestritten.

1. Oktober 2021 Nachfrage beim Bundewahlleiter in Bezug auf ein Formular in der Bundeswahlordnung hinzugefügt.

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