Die Delta-Variante des Coronavirus befällt sowohl junge wie ältere Ungeimpfte ( AFP / Patrick T. FALLON)

Nein, die Delta-Variante des Coronavirus befällt nicht vorwiegend Kinder und Jugendliche

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  • Veröffentlicht am 28. Juni 2021 um 14:05
  • Aktualisiert am 28. Juni 2021 um 14:07
  • 6 Minuten Lesezeit
  • Von: Jan RUSSEZKI, AFP Deutschland
Tausende Facebook-User haben Mitte Juni eine Behauptung geteilt, wonach die "plötzlich aufgetauchte" Delta-Variante des Coronavirus "zufällig vorwiegend nur Jugendliche und Kinder" befalle. Mit diesen "Mitteln" wollten "sie (...) an die Kinder". Die Delta-Variante ist allerdings weder "plötzlich" in Deutschland aufgetaucht, noch befällt sie "zufällig" und "nur" jüngere Menschen. Laut Fachleuten und Behörden infizieren sich Erwachsene wie Jugendliche aktuell etwa gleich häufig mit der Delta-Variante. Für Ungeimpfte aller Altersgruppen ist das Ansteckungsrisiko gleich. Warnungen von Fachleuten bezogen sich lediglich auf fehlende Impfungen unter Kindern.

Die Kinder-Behauptung haben seit dem 18. Juni 2021 etwa 7000 Facebook-User (hier, hier) geteilt. In den Postings heißt es: "Ist das nicht seltsam, dass plötzlich eine D-Variante auftaucht, die zufällig vorwiegend nur Jugendliche und Kinder befällt?" Die User kommen zum Fazit: "Sie wollen mit allen Mitteln an die Kinder!"

Wer mit "sie" gemeint ist und welche Motivation hinter einer solchen Handlung stecken könnte, lassen die Postings offen.

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Facebook-Screenshot: 24.06.2021

In welchem Kontext steht die Delta-Behauptung?

Die Delta-Variante ist eine Sars-Cov-2-Mutation, die erstmals im Oktober 2020 in Indien entdeckt wurde. Die wissenschaftlich als "B.1.617" bezeichnete Mutation wurde umgangssprachlich auch "indische Variante" genannt. Im Mai behaupteten Facebook-User, Indien habe diese Variante geleugnet, was AFP in diesem Faktencheck widerlegte.

Klar ist, dass sich die Delta-Variante aktuell in Deutschland ausbreitet. Laut Robert-Koch-Institut gibt es Hinweise darauf, dass die Mutation ansteckender ist als die ältere Alpha-Variante des Coronavirus. So kam es am 16. Juni unter anderem zu einem warnenden Tweet des Bundestagsabgeordneten Karl Lauterbach (SPD), auf welchen die Facebook-User zwei Tage später möglicherweise mit der aktuell verbreiteten Behauptung reagierten. Darin verwies Lauterbach darauf, dass bei der fortschreitenden Ausbreitung der Delta-Mutation Kinder wegen fehlender Impfung ungeschützt seien. (Hier erklärt Lauterbach seine Aussage im Interview mit "Welt")

Falsche Behauptung: Die Delta-Variante ist "plötzlich aufgetaucht"

Das Posting behauptet, die Delta-Variante sei "plötzlich aufgetaucht". Das ist allerdings falsch.

Dass Coronaviren mutieren und damit auch ihre Eigenschaften verändern, ist bekannt und kann auf der Seite des RKI nachgelesen werden. Wie viele Varianten es gibt, ist unbekannt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat jedoch elf Varianten als "besorgniserregend" klassifiziert. Diese könnten demnach die Pandemie verschlimmern, weil sie ansteckender seien, ein anderes Krankheitsbild auslösen und die Wirksamkeit der Eindämmungsmaßnahmen der Regierungen mindern könnten.

Die WHO stellte die Delta-Variante zum ersten Mal im Oktober 2020 in Indien fest. Das Robert-Koch-Institut erwähnte sie in einem Bericht vom 21. April 2021. Darin heißt es bereits: "Diese Variante wurde zuerst im indischen Bundesstaat Maharashtra gefunden und verbreitet sich dort stark. Sie zirkuliert auch in anderen indischen Bundesstaaten und wurde bereits in Großbritannien ebenso wie in Deutschland vereinzelt nachgewiesen." Seitdem hat die Verbreitung dieser Variante in Deutschland zugenommen und könnte laut RKI-Bericht vom 23. Juni die aktuell noch dominierende Alpha-Variante verdrängen.

Falsche Behauptung: Die Delta-Variante befällt "zufällig nur" Kinder und Jugendliche

In dem Facebook-Posting heißt es, dass die Delta-Variante "zufällig vorwiegend nur Jugendliche und Kinder" befalle. Das ist falsch.

Ein Sprecher des Europäischen Zentrums für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC), das einen Überblick über das europäische Pandemie-Geschehen hat, erklärte gegenüber AFP am 23. Juni in einer E-Mail: "Es gibt keine Hinweise darauf, dass Kinder und Jugendliche anfälliger für die Delta-Variante sind als andere Altersgruppen."

Auch Hanno Kautz, Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums, erklärte auf AFP-Anfrage in einer E-Mail am 23. Juni für Deutschland: "Das Virus unterscheidet nicht zwischen Alt und Jung."

Das belegen auch Daten des RKI vom 23. Juni. In einem Bericht zur Verbreitung der Delta-Variante ist zu sehen, dass sich 15- bis 34-Jährige etwa genauso häufig mit der Mutation "B.1.617.2" infizieren wie 35- bis 59-Jährige. Die Infektionsrate bei Kindern und Jugendlichen zwischen 0 und 14 Jahren scheint laut dieser Grafik sogar geringer zu sein. Ebenso bei den über 60-Jährigen.

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Screenshot der RKI-Grafik aus Bericht zur Delta-Variante: 24.06.2021 ( AFP-Screenshot / )

Die Erklärung für die Altersverteilung der Neuinfektionen steht in einem Bericht des ECDC vom 23. Juni: "Da jüngere Erwachsene und Kinder derzeit nicht gezielt geimpft werden, wird erwartet, dass Delta VOC in diesen Altersgruppen stärker zirkulieren wird, wie in Großbritannien beobachtet." Jedoch ist diese Beobachtung in Großbritannien noch nicht absolut sicher: "Dieses Ergebnis könnte verzerrt sein, da Schulausbrüche im Vereinigten Königreich für die Untersuchung und Kontaktverfolgung prioritär sind", heißt es weiter.

Auch Sprecher Hanno Kautz aus dem Bundesgesundheitsministerium gibt eine ähnliche Antwort: "Entweder, man steckt sich an oder lässt sich impfen. In diesem Sinne könnte das Virus Kinder und Jugendliche nur deshalb härter treffen, weil sie nicht in dem Maße geimpft sind oder sich impfen nicht lassen können wie Erwachsene."

Die Ansteckungsverteilung lässt sich also unter anderem durch die Priorisierung der bestehenden Impfungen in Deutschland erklären. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels wurden bisher 29,4 Millionen Menschen vollständig geimpft. Das entspricht etwa einem Drittel der Bevölkerung. Dieser Teil besteht vor allem aus über 60-Jährigen, weil die Impfkampagne vorsah, diese und kranke Menschen zuerst zu impfen. Eine ähnliche Infektionsverteilung ist im RKI-Bericht auch bei der Alpha-Variante zu sehen, was ebenfalls einen Hinweis auf die Impfung gibt.

Fehlender Kontext: Die Delta-Variante steckt "vorwiegend" Kinder und Jugendliche an

Die Impf-Priorisierung ist erst seit dem 7. Juni aufgehoben, was auch jungen Menschen ab zwölf Jahren den Zugang zur Covid-Impfung ermöglicht. Bis diese tatsächlich geschützt sind, können Wochen vergehen. So heißt es auf der Seite der Bundesregierung: "[Es] ist Geduld bei der Vereinbarung von Impfterminen gefragt: Es wird noch dauern, ehe alle, die eine Impfung bekommen möchten, auch eine Impfung erhalten."

Einen vollständigen Impfschutz entwickeln Geimpfte erst nach zwei Impfungen und einer Aufbauzeit von zwei Wochen. Bis dahin ist eine Ansteckung nicht unwahrscheinlich und ein schwerer Verlauf möglich. Grundsätzlich gilt das aber nicht nur für junge Menschen, sondern für alle Ungeimpften.

Unklare Behauptung: "Sie wollen mit allen Mitteln an die Kinder!"

Das Posting kommt zu dem Fazit "Sie wollen mit allen Mitteln an die Kinder!" und fragt schließlich "Warum?".

Wer genau mit "Sie" gemeint ist, bleibt offen. Auch die Frage nach den Gründen. Würden die Posting-Autoren damit eine Impfung von Kindern meinen, gäbe es dafür aber ebenfalls keine Belege.

Das RKI veröffentlichte am 24. Juni eine Information für Eltern, in der steht: "Für unter 12-jährige Kinder liegt noch keine Empfehlung vor. Sollte ein Impfstoff für jüngere Kinder zugelassen werden, wird die Stiko diese Daten bewerten und eine weitere Empfehlung aussprechen."

Die Stiko ist die Ständige Impfkommission. Sie besteht aus Fachleuten, die das RKI und die Bundesregierung berät. Ihre aktuelle Empfehlung vom 24. Juni lautet: "Die Ständige Impfkommission empfiehlt die Impfung gegen COVID-19 für alle Personen ab 18 Jahren sowie als Indikationsimpfung für Kinder und Jugendliche im Alter von 12-17 Jahren, die aufgrund von Vorerkrankungen ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf der COVID-19-Erkrankung haben." Kindern und Jugendlichen wird die Impfung also nur in Ausnahmefällen empfohlen und ist laut Bundesregierung nur auf expliziten Wunsch der Kinder oder Eltern möglich.

Die WHO sieht eine Impfung von gesunden Kindern und Jugendlichen auch als nicht dringend an, weil diese meist mildere Krankheitsverläufe hätten. Auf der Internetseite heißt es: "Um allgemeine Empfehlungen zur Impfung von Kindern gegen COVID-19 geben zu können, sind mehr Evidenz zur Anwendung der verschiedenen COVID-19-Impfstoffe bei Kindern erforderlich." Kinder, denen einen Impfung empfohlen wurde, rät die WHO, diese auch zu nehmen.

Trotz der aktuellen Ausbreitung der Delta-Variante heißt es auf der Seite der Bundesregierung: "Die Impfung gegen das Coronavirus ist freiwillig"

Fazit

Die Behauptung, dass die Delta-Variante "plötzlich" aufgetaucht sei und "zufällig nur" Jugendliche und Kinder befalle, ist irreführend. Die Variante ist in Deutschland mindestens schon seit dem 21. April 2021 aktiv und war schon Monate zuvor bekannt. Es infizieren sich auch nicht vorwiegend Kinder und Jugendliche. Behörden und deren Daten zeigen, dass die Delta-Variante alle Menschen zwischen 15 und 59 Jahren gleichmäßig infiziert. Grund für diese eingeschränkte Spanne ist die anfängliche Impfpriorität von Menschen über 60 Jahren Menschen.

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