Übertriebene Zahlen über Atomstromimporte nach Deutschland

  • Veröffentlicht am 30. Januar 2025 um 17:59
  • Aktualisiert am 31. Januar 2025 um 08:37
  • 7 Minuten Lesezeit
  • Von: Gundula HAAGE, AFP Deutschland
2023 wurden in Deutschland die letzten Atomkraftwerke abgeschaltet. Über Importe gelangt Atomstrom dennoch in das deutsche Stromnetz. Im Januar 2025 kursierte in sozialen Netzwerken eine Grafik, laut der deutsche Atomstromimporte im Jahr 2024 mehr als doppelt so hoch gewesen seien als im Jahr zuvor. Die online geteilten Zahlen sind jedoch teilweise falsch, wie Fachleute bestätigten. Der importierte Strom stammte 2024 zwar tatsächlich auch aus Kernenergie, jedoch in deutlich geringerem Umfang als online behauptet.

Auch nach dem Atomausstieg, infolge dessen am 15. April 2023 die letzten drei deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet wurden, brechen die gesellschaftlichen Debatten um Kernkraft nicht ab. "Es war kein Atomausstieg, wir kaufen den Atomstrom jetzt für teures Geld nur von woanders!", schrieb ein Facebook-Nutzer am 27. Dezember 2024, der über dreihundert Mal geteilt wurde. Dazu verbreitete er ein Sharepic mit der Beschriftung "So viel Atomstrom importiert Deutschland".

Das Sharepic zeigt ein Balkendiagramm mit den angeblichen Werten für Atomstromimporte der Jahre 2015 bis 2024 in Gigawattstunden (GWh). Der Wert für das Jahr 2024 ist dabei im Vergleich zu den anderen Jahren mit Abstand der höchste und wird mit 24.898 GWh (von Januar bis November) angegeben.

Im Januar 2025 wurde das Sharepic tausendfach auf Facebook verbreitet. "Deutschland Absurdistan" kommentierte ein Facebook-Nutzer dazu. Auch auf Threads, Instagram und X kursierte das Sharepic vielfach, meist mit Argumenten, die den Atomausstieg kritisieren. "'Grünland' oder 'Lügenland' Deutschland?", schrieb etwa ein Instagram-Nutzer am 16. Dezember 2024.

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Facebook-Screenshot der Behauptung: 29. Januar 2025

Wie AFP nachweisen konnte, ist die für das Jahr 2024 angegebene Zahl jedoch nicht korrekt, die Grafik erzeugt somit ein verzerrtes Bild über Stromimporte aus Kernenergie.

Teilweise falsche Zahlen

Auf dem online kursierenden Balkendiagramm wird "SMARD der Bundesnetzagentur" als Quelle für die genannten Atomstromimporte angeführt. Eine Stichwortsuche ergab, dass es sich bei Smard um die offizielle Informationsplattform der Bundesnetzagentur (BNetzA) über den deutschen Strommarkt handelt. Die zugrundeliegenden Daten werden dabei automatisch von den Netzbetreibern zur Verfügung gestellt. Nach der sogenannten Stromtransparenzverordnung der Europäischen Union sind deutsche Übertragungsnetzbetreiber, die überregionale Stromnetze betreiben, dazu verpflichtet, ihre Daten vollständig und transparent bereit zu stellen.

Auf der Website von Smard lassen sich die Berechnungen der jährlichen Stromimporte aufgeschlüsselt nach Energieträgern für die Jahre 2015 bis 2024 (hier archiviert) anzeigen. Wie der folgende Vergleich der Kernenergie zeigt, stimmen die online kursierenden Werte jedoch nicht mit den offiziellen Smard-Daten überein, da der Balken für das Jahr 2024 auf dem Screenshot-Diagramm viel höher eingezeichnet wurde:

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Vergleich des online kursierenden Balkendiagramms (links) und der offiziellen Daten von Smard.de (rechts); Screenshots und Hervorhebung durch AFP: 29. Januar 2025

Ein Vergleich der exakten auf Smard veröffentlichten Daten beweist, dass im gesamten Jahr 2024 (Januar bis Dezember) 18.313 GWh Kernenergie als Import nach Deutschland gelangte, also deutlich weniger als die online behaupteten 24.898 GWh (von Januar bis November 2024):

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Gesamter jährlicher Stromimport aufgeschlüsselt nach Energieträger: Kernenergie, Screenshot von Smard.de, Hervorhebung durch AFP: 29. Januar 2025

Judith Henke, Pressesprecherin der BNetzA, bestätigte am 30. Januar 2025 auf AFP-Anfrage, dass die kursierende Zahl von 24.898 GWh an Stromimporten aus Kernenergie im Zeitraum Januar bis November 2024 nicht zutreffe. "Betrachtet man nur den Zeitraum von Januar bis November 2024, liegt dieser Wert bei 17.415 GWh", schrieb Henke per E-Mail. Die im Screenshot gezeigten Werte für die Jahre 2015 bis 2023 stimmen laut Henke jedoch mit den Daten der Bundesnetzagentur überein.

Mit dem online kursierenden Sharepic wird die Behauptung verbreitet, der importierte Atomstrom habe sich von 2023 auf 2024 (Januar bis November) mehr als verdoppelt (von 11.778 GWh auf 24.898 GWh). Tatsächlich ist er jedoch um 32 Prozent gestiegen (von 11.778 GWh in 2023 auf 17.415 GWh Januar bis November 2024). 

Wie Expertinnen und Experten gegenüber AFP erklärten, seien die online kursierenden Zahlen allerdings nicht nur teilweise falsch. Sie vermitteln zudem ein irreführendes Bild über den Atomstromanteil am deutschen Strommix.

Daten über Importanteile beruhen auf Schätzungen

Leonhard Probst, Ingenieur am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE), ist mitverantwortlich für die Energiedatenplattform Energy-Charts. Auf AFP-Anfrage erklärte er am 29. Januar 2025 per E-Mail, dass sich der genaue Atomstromanteil an Stromimporten nicht beziffern lasse und es aus wissenschaftlicher Sicht auch keine exakten Zahlenangaben dazu geben könne. Denn wenn importierter Strom erst einmal in das Stromnetz eingespeist ist, ließe er sich nicht mehr einem bestimmten Energieträger zuordnen. Alle Daten über Importanteile, wie die auf Smard veröffentlichten, seien darum näherungsweise Schätzungen.

"Die Bundesnetzagentur veröffentlicht seit einigen Monaten Importzahlen auf Basis der vereinfachten Annahme, dass die Zusammensetzung des importierten Stroms der aktuellen Erzeugungsstruktur des jeweiligen Exportlandes entspricht", erklärte Probst die Smard-Daten. "Transitflüsse werden dabei jedoch nicht berücksichtigt", fügte er hinzu. Für das Jahr 2024 bedeutet das konkret, dass Deutschland insgesamt Stromimporte von 74,9 Terrawattstunden (TWh) hatte, darunter auch Atomstrom. Im selben Zeitraum wurden jedoch auch 50,1 TWh Strom exportiert. 

Stromimporte und -exporte folgen dabei der Logik der europäischen Strommarktkopplung: Deutschland ist ein sogenanntes Stromtransitland innerhalb des gemeinsamen Strommarkts der EU. Das bedeutet, dass fortlaufend Strom importiert und exportiert wird und letztlich dort landet, wo er benötigt wird. Die folgende Grafik, die auf Energy-Charts veröffentlicht wurde, veranschaulicht diese grenzüberschreitenden Stromflüsse am Beispiel von Deutschland und seinen Nachbarländern:

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Grafische Darstellung der grenzüberschreitenden Stromflüsse zwischen Deutschland und Nachbarländern in 2024, Screenshot von Energy-Charts: 29. Januar 2025

Dieser gemeinsame Strommarkt ermögliche es den beteiligten EU-Ländern, Geld zu sparen und Emissionen zu senken. "Deutschland oder einzelne Marktteilnehmer haben keinerlei Einfluss darauf, welcher Energieträger importiert wird – dies widerspricht sogar dem Grundprinzip des europäischen Strommarktes", erklärte Probst. "Auch bei einem ausgeglichenen Handelssaldo ließe es sich nicht verhindern, Kernenergie zu importieren." Doch für die Versorgungssicherheit oder die Ziele der Energiewende sei dieser Anteil der importierten Kernenergie laut Probst "in keiner Weise problematisch". 

Judith Henke von der BNetzA stimmt dem zu. Es sei "physikalisch nicht möglich, 'bestimmten' Strom zu importieren oder zu exportieren. Die Energieträgeranteile am Außenhandel ergeben sich aus dem Erzeugungsmix, der zum Zeitpunkt des Exportes im exportierenden Land besteht", erklärte sie. Im Jahr 2024 sei vergleichsweise viel Strom aus Frankreich importiert worden, wo durch Kernenergie erzeugter Strom 69,1 Prozent ausmache. 

Kein Stromdefizit durch Atomausstieg in Deutschland

In sozialen Medien wurde das Sharepic häufig mit der Behauptung geteilt, der Atomausstieg sei ein Fehler gewesen, da Deutschland seitdem selbst nicht genug Strom erzeugen würde und diesen stattdessen teuer aus Nachbarländern einkaufen müsse. "Erst aussteigen, dann importieren!", kommentierte beispielsweise ein Facebook-Nutzer

Judith Henke von der BNetzA bestätigte gegenüber AFP, dass die Stromimporte insgesamt sowie auch die Importe von durch Kernenergie erzeugtem Strom im Jahr 2024 gegenüber 2023 zugenommen haben. "Das bedeutet aber weder, dass die Stromversorgung Deutschlands gefährdet ist, noch dass der Anteil von Kernenergie am deutschen Verbrauchsmix zugenommen hat", betonte sie. Der grenzüberschreitende Stromhandel des europäischen Binnenmarkts erlaube es vielmehr, Strom dort zu erzeugen, "wo dies zu möglichst günstigen Konditionen geschehen kann". Importe und Exporte fänden dabei gleichzeitig statt. "Ein Nettoimport bedeutet also nicht, dass in dem jeweiligen Zeitraum nicht auch Strom exportiert wurde", erklärte Henke.

Laut BNetzA importierte Deutschland im Jahr 2024 insgesamt 67,0 TWh (2023: 54,3 TWh) und exportierte 35,1 TWh (2023: 39,0 TWh) Strom. Selbst die gestiegenen Importzahlen im Jahr 2024 machten laut Leonhard Probst von Energy-Chart lediglich fünf Prozent des gesamten Stromverbrauchs Deutschlands aus. Im Jahr 2024 hat Deutschland demgegenüber insgesamt 464,4 TWh Strom verbraucht.

Die Importe seien kein Zeichen für ein angebliches deutsches Stromdefizit als Folge abgeschalteter Atomkraftwerke: "Deutschland verfügt über ausreichend Stromerzeugungskapazitäten. Strom wird in aller Regel dann importiert, wenn die inländische Produktion teurer wäre. Angebot und Nachfrage bilden ein gesamteuropäisches Zusammenspiel", heißt es auch in einer Pressemitteilung der Bundesnetzagentur vom 3. Januar 2025.

Auch Claudia Hanisch, Pressesprecherin des Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE), erläuterte auf AFP-Nachfrage am 28. Januar 2025, dass die Stromimporte Zeichen eines funktionierenden Marktes seien: "Über viele Jahre waren wir Stromexporteur, auch nach Frankreich, aber nun sind Importe oft günstiger als der heimische Kohlestrom", erklärte Hanisch. "Auch ohne die AKWs hat Deutschland mehr Erzeugungskapazität (circa 90 GW), als es benötigt (circa 75 GW)", fügte sie hinzu. Der deutsche Atomausstieg sei komplett durch den Zubau erneuerbarer Energien kompensiert worden. 

Leonhard Probst unterstrich das ebenfalls: "Deutschland hatte in den 1990er-Jahren bis 2005 ein weitgehend ausgeglichenes Stromhandelssaldo. Der Ausbau erneuerbarer Energien seit 2003 ermöglichte trotz der schrittweisen Abschaltung von Kernkraftwerken eine Erhöhung der Exporte", erklärte er. Für die kommenden Jahre rechnet Probst jedoch wieder mit einem ausgeglichenen Stromhandelssaldo, da erneuerbare Energien fortlaufend weiter ausgebaut wurden. 

Fazit: Eine online kursierende Grafik verbreitete teilweise falsche Zahlen über die im Jahr 2024 angeblich importierte Menge an Atomstrom ins deutsche Netz. Zwar gelangte auch Strom aus Kernenergie in das deutsche Netz, jedoch in deutlich geringerem Umfang als online behauptet. Laut Fachleuten hat der im Jahr 2023 vollständig umgesetzte Atomausstieg zudem kein Stromdefizit in Deutschland erzeugt.

Tippfehler im 20. Absatz korrigiert
31. Januar 2025 Tippfehler im 20. Absatz korrigiert

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