Thüringer Verfassung lässt Fraktionszugehörigkeit des Landtagspräsidenten offen
- Veröffentlicht am 30. September 2024 um 16:43
- Aktualisiert am 7. Oktober 2024 um 12:38
- 6 Minuten Lesezeit
- Von: Johanna LEHN, AFP Deutschland
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Die konstituierende Sitzung des Thüringer Landtags am 26. September 2024 war von Tumulten und Unterbrechungen geprägt. Die AfD wurde bei der Landtagswahl am 1. September 2024 stärkste Kraft – laut der bislang gültigen Geschäftsordnung des Landtags darf sie deshalb einen Kandidaten oder eine Kandidatin für das Amt des Landtagspräsidenten vorschlagen. Mit einem Antrag zur Änderung dieser Geschäftsordnung wollten die übrigen Fraktionen erreichen, dass auch sie von Beginn an ein Vorschlagsrecht haben.
Vor diesem Hintergrund wird in sozialen Medien behauptet, der stärksten Fraktion stünde das Amt des Landtagspräsidenten zu. "Vor der Wahl war klar geregelt, die stärkste Kraft stellt den Landtagspräsidenten. Die Bürger wussten das und haben die AfD zur stärksten Kraft gewählt", schrieb der Blogger "Neverforgetniki" in einem Beitrag auf X. Er wird auch auf Facebook tausendfach geteilt, unter anderem von einem AfD-Kreisverband und eine AfD-Kreisrat.
In einem weiteren Post formulierte der Blogger noch deutlicher, das Kalkül der CDU sei es, "am Ende selbst den Landtagspräsidenten stellen, der laut Verfassung dem Wahlsieger AfD zusteht". Auch AfD-Bundesvorsitzende Alice Weidel und der Thüringer AfD-Fraktionsvorsitzende Björn Höcke teilten Beiträge, in denen sie behaupteten, der AfD stehe das Amt des Landtagspräsidenten zu.
Die Behauptungen sind jedoch irreführend. Der Blogger "Neverforgetniki", mit bürgerlichem Namen Niklas Lotz, ergreift laut Medienberichten häufig Partei für die AfD und wurde beispielsweise von der Plattform "Philosophia Perennis" unterstützt, die in der Vergangenheit bereits Falschinformationen verbreitete. Auch eine Behauptung von Lotz selbst wurde von AFP widerlegt.
Geschäftsordnung und Verfassung regeln Wahl
Die Geschäftsordnung des Thüringer Landtags, die am 26. September 2024 galt, legt fest, dass in der ersten Sitzung des Landtags, der sogenannten konstituierenden Sitzung, der Präsident oder die Präsidentin des Landtags gewählt wird. Aus ihr geht auch zumindest in groben Zügen hervor, wie diese Wahl gestaltet ist. "Die stärkste Fraktion schlägt ein Mitglied des Landtags für die Wahl zur Präsidentin beziehungsweise zum Präsidenten vor", gibt Paragraph 2 der Geschäftsordnung vor. Die Thüringer Verfassung regelt in Paragraph 57: "Der Landtag wählt aus seiner Mitte den Präsidenten, die Vizepräsidenten und die Schriftführer."
Der oder die vorgeschlagene Abgeordnete gilt laut Geschäftsordnung als gewählt, wenn er oder sie "die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen erhält". Ist das nicht der Fall, "können für weitere Wahlgänge neue Bewerberinnen beziehungsweise Bewerber vorgeschlagen werden". Welcher Fraktion diese weiteren Abgeordneten angehören können und wer die Vorschläge machen darf, nennt die Geschäftsordnung nicht explizit. Weder die Geschäftsordnung noch die Verfassung schreiben somit explizit vor, dass der Landtagspräsident oder die Landtagspräsidentin der stärksten Fraktion angehören muss. Diese hat demnach als Erste das Vorschlagsrecht. Zudem muss die Kandidatin oder der Kandidat eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter des Landtags sein.
Hier ergibt sich die Schwierigkeit, vor der der Landtag zunächst stand: Die stärkste Fraktion ist die AfD. Sie hat Wiebke Muhsal für das Amt der Landtagspräsidentin vorgeschlagen. Die übrigen Fraktionen der CDU, BSW, Linken und SPD kündigten bereits vor der Sitzung an, dass sie keinen AfD-Vorschlag unterstützen werden. Sie wollten niemanden aus einer dem Thüringer Verfassungsschutz zufolge gesichert rechtsextremen Partei in dieses Amt wählen. Deshalb wollten die Fraktionen der CDU und des BSW mit einem Antrag zur Änderung der Geschäftsordnung die Regelung ändern, sodass jede Fraktion von Beginn an Kandidatinnen und Kandidaten nominieren könnte. Das blockierte der sitzungsleitende AfD-Alterspräsident Jürgen Treutler.
Kein Anspruch auf das Amt
In Bezug auf die rechtlichen Freiräume, welchen Fraktionen weitere nominierte Kandidatinnen und Kandidaten angehören dürfen, erklärte die Landtagsverwaltung auf AFP-Anfrage in einer E-Mail vom 4. Oktober 2024, dass "auch die anderen Fraktionen einen Wahlvorschlag unterbreiten" können, falls "der Wahlvorschlag der stärksten Fraktion in zwei Wahlgängen nicht die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen" bekommen hat.
Seit der ersten Legislaturperiode, die 1990 begann, gehörte der Landtagspräsident beziehungsweise die Landtagspräsidentin immer der stärksten Fraktion an. Diese Tradition ist jedoch rechtlich nicht verbindlich. "Die AfD hat als stärkste Kraft erstmal nur das Recht, den Kandidaten vorzuschlagen für dieses Amt, aber noch lange nicht das Recht, dass dieser Kandidat dann auch gewählt wird", erklärte der Jurist und Chefredakteur des juristischen Webblogs "Verfassungsblog" Maximilian Steinbeis am 26. September 2024 im ZDF-Magazin "ZDF heute". Wen sie wählen, sei "eine freie Entscheidung der Abgeordneten des neuen Thüringer Landtags". Ein Anspruch auf dieses Amt sei seitens der AfD "eine reine Behauptung" und lässt sich ihm zufolge nicht aus der Verfassung ableiten: "Mehr gesteht die Verfassung der AfD als stärkster Fraktion überhaupt nicht zu." Darüber schrieb er auch im Dezember 2023 auf dem "Verfassungsblog".
Die Landtagsverwaltung erklärte gegenüber AFP, dass in der Geschichte des Thüringer Landtags ein Kandidat abgelehnt wurde. Nach dem Rücktritt des Landtagspräsidenten der 6. Wahlperiode "hatte die damalige Fraktion der CDU einen ehemaligen Abgeordneten vorgeschlagen, der vom Landtag der 6. Wahlperiode nicht gewählt wurde". Das geht auch aus dem Plenarprotokoll der Sitzung vom 9. November 2018 hervor, wonach der CDU-Kandidat Michael Heym mit 48 Stimmen gegen ihn und 40 Stimmen für ihn keine Mehrheit bekam und somit nicht gewählt wurde. Am 12. Dezember 2018 wurde schließlich die neue Kandidatin der CDU, Birgit Diezel, zur Landtagspräsidentin gewählt.
Verfassungsgerichtshof: Jede Fraktion hat Vorschlagsrecht
Diese Rechtsauffassung bekräftigte der Thüringer Verfassungsgerichtshof, den die CDU am 26. September 2024 anrief. Die CDU wollte erreichen, dass über die Annahme der Tagesordnung abgestimmt wird, die zuerst den Änderungsantrag der Geschäftsordnung behandelt, bevor ein Landtagspräsident oder eine Landtagspräsidenten gewählt wird. Der Verfassungsgerichtshof stimmte dem am 27. September 2024 zu. Demnach wurde am 28. September 2024 bei der Fortsetzung der konstituierenden Sitzung über den Antrag abgestimmt, wodurch auch andere Fraktionen bereits im ersten Wahlgang Kandidatinnen und Kandidaten für das Amt des Landtagspräsidenten aufstellen durften. Gewählt wurde der CDU-Kandidat Thadäus König.
Der Beschluss des Verfassungsgerichtshofs macht auch Aussagen zur Wahl des Landtagspräsidenten oder der Landtagspräsidentin. Demnach verstoße ein Vorschlagsrecht für alle Fraktionen des Landtags "weder gegen Bestimmungen der Thüringer Verfassung noch gegen verfassungsrechtliches Gewohnheitsrecht". Und weiter: "Ein ausschließlicher Anspruch der stärksten Fraktion im Thüringer Landtag" darauf, Kandidatinnen und Kandidaten für das Amt vorzuschlagen, "ergibt sich weder aus geschriebenem noch aus ungeschriebenem Verfassungsrecht". Die Vorgabe der Verfassung an den Landtag, seinen Präsidenten oder Präsidentin "aus seiner Mitte" zu wählen, steht dem Beschluss zufolge "ebenfalls einem ausschließlichen Vorschlagsrecht einer bestimmten Fraktion entgegen".
Zudem ist es in der Verfassung und der Geschäftsordnung wortwörtlich eine Wahl eines Präsidenten oder einer Präsidentin, keine Ernennung. Deshalb müsse die Freiheit der Wahl und das Recht auf Zustimmung und Ablehnung eines Kandidaten oder einer Kandidatin gewährleistet werden. Mehr noch: "Die Wahl wäre ihres Sinns entleert, wenn eine Fraktion das Recht auf ein bestimmtes Wahlergebnis hätte", schreibt der Verfassungsgerichtshof in seinem Beschluss. Diese Freiheit der Wahl hat sowohl auf Thüringer Landesebene in Paragraph 46 als auch durch Artikel 28 des Grundgesetzes Verfassungsrang.
Fazit: Die AfD hat als stärkste Fraktion im Thüringer Landtag keinen Anspruch auf das Amt des Landtagspräsidenten oder der Landtagspräsidentin. Aus der Geschäftsordnung des Landesparlaments, die am 26. September 2024 galt, leitete sich lediglich das Recht der stärksten Fraktion ab, zuerst einen Kandidaten oder eine Kandidatin vorzuschlagen. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof entschied, dass die Thüringer Verfassung lediglich vorgibt, dass der Landtagspräsident oder die Landtagspräsidentin zwar dem Landesparlament, nicht aber der stärksten Fraktion angehören muss.
Zitate der Thüringer Landtagsverwaltung auf AFP-Anfrage hinzugefügt
7. Oktober 2024 Zitate der Thüringer Landtagsverwaltung auf AFP-Anfrage hinzugefügt