Die niederländische Bevölkerung wird nicht dazu gezwungen, Geflüchtete bei sich aufzunehmen
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- Veröffentlicht am 29. Juli 2022 um 13:06
- 5 Minuten Lesezeit
- Von: Saladin SALEM, AFP Deutschland
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Hunderte User haben die Behauptung zur Unterbringung von Geflüchteten in den Niederlanden auf Facebook verbreitet (hier, hier). Dazu nutzen sie verschiedene Artikel, die Mitte Juli auf deutschsprachigen Blogs erschienen (hier, hier). Auch auf Twitter und Telegram wird die vermeintliche Nachricht geteilt. AFP erhielt zudem auf WhatsApp Hinweise zu der Behauptung.
Die Behauptung: Auf Facebook heißt es, die holländische Regierung zwinge künftig Bürgerinnen und Bürger zur "Migrantenaufnahme in den eigenen vier Wänden". Dieser Plan zur "Flüchtlingsunterbringung" sei vom niederländischen Parlament abgesegnet worden. Die Regierung sei sogar in der Lage, Bürgerinnen und Bürger zugunsten von Geflüchteten umzusiedeln.
Laut Mediendienst Integration sind seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine Millionen von Menschen auf der Flucht. Bis zum 16. Juli 2022 seien 909.740 Personen aus der Ukraine im deutschen Ausländerzentralregister registriert worden. Weiter erläutert der Mediendienst Integration: "Wie viele Geflüchtete aus der Ukraine tatsächlich Deutschland erreicht beziehungsweise verlassen haben, lässt sich nicht genau sagen." Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) gab die Zahl der in Deutschland erfassten ukrainischen Geflüchteten bis zum 16. Juni 2022 mit etwa 780.000 Menschen an.
In den Niederlanden hätten bis zum 5. Juli 2022 etwa 68.050 Geflüchtete aus der Ukraine einen Schutzstatus erhalten, so der Mediendienst Integration. Auch das Europäische Zentrum für die Förderung der Berufsbildung und verschiedene niederländische Medien (hier, hier) geben die Zahl an ukrainischen Geflüchteten in den Niederlanden zwischen Mai und Juli 2022 mit mehr als 60.000 Menschen an.
Was wurde in den Niederlanden beschlossen?
Angesichts der Ankunft von zahlreichen ukrainischen Geflüchteten in den Niederlanden hat sich die niederländische Regierung Ende März dazu entschlossen, zwei Artikel aus einem sogenannten "Gesetz über die Bevölkerungsbewegung" (Wet verplaatsing bevolking) zu aktivieren. In einem Amtsblatt des Ministeriums für Justiz und Sicherheit heißt es dazu:
"Der Zustrom von Vertriebenen aus der Ukraine ist so groß, dass die bestehenden Strukturen nicht die erforderliche Aufnahme bieten können, und dass diese außergewöhnlichen Umstände es erforderlich machen, bestimmte Artikel des Gesetzes zur Bevölkerungsbewegung zu aktivieren."
Das Gesetz stammt aus dem Jahr 1952 und diente ursprünglich zur Regelung der Umsiedlung der Bevölkerung im Falle von "Krieg, Kriegsgefahr und damit verbundenen oder außergewöhnlichen Umständen". Nun sind die Artikel 2c und 4 in den Niederlanden in Kraft gesetzt worden.
Im Amtsblatt zur Umsetzung der Artikel heißt es, Artikel 2c regele die Anwendbarkeit des Gesetzes in der aktuellen Situation, sodass dieses also das "Überschreiten unserer Grenzen durch große Gruppen von Vertriebenen" umfasse. In Artikel 4 wird den Kommunen die Verantwortung für die Aufnahme, Unterbringung, Betreuung und Registrierung von Vertriebenen, in diesem Fall speziell ukrainischen Geflüchteten, erteilt. Der niederländische Justizminister könne dabei den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern Richtlinien und Weisungen geben. Eine Verantwortung individueller Bürgerinnen und Bürger wird hier allerdings nicht erwähnt.
Wie die Zweite Kammer der Generalstaaten, das niederländische Parlament, online erläutert, ist bei der Umsetzung der Artikel aus dem Gesetz zur Bevölkerungsbewegung von einem Notstandsrecht Gebrauch gemacht worden. Für die Fortsetzung dieses Notstandsrechts sei allerdings die Zustimmung des Hauses erforderlich. Ein entsprechender Gesetzentwurf wurde auf den Weg gebracht und am 7. Juli bereits von der Zweiten Kammer angenommen. Die Entscheidung der Ersten Kammer der Generalstaaten steht noch aus und soll nach dem Sommer fallen.
Bürgerinnen und Bürger müssen keine Geflüchteten aufnehmen
Dass niederländische Bürgerinnen und Bürger durch das Gesetz gezwungen seien, selbst Geflüchtete zuhause aufzunehmen oder gar ihre eigenen Wohnungen zu räumen, lässt sich nicht nachvollziehen. Das Gesetz richtet sich in erster Linie an die Gemeinden, welche nun Verantwortung bei der Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten tragen sollen.
Auf AFP-Anfrage teilte eine Sprecherin des niederländischen Ministeriums für Justiz und Sicherheit am 22. Juli 2022 mit, der Gesetzentwurf sehe keine Unterbringung von Geflüchteten in Wohnungen von niederländischen Bürgerinnen und Bürgern vor. "Eine Umsiedlung der niederländischen Bevölkerung wird ebenfalls nicht erlaubt," erläuterte sie weiter. Zudem müsse dem Entwurf auch noch im niederländischen Senat, der ersten Parlamentskammer, zugestimmt werden.
Ein Sprecher des "Dutch Council for Refugees", einer niederländischen Hilfsorganisation für Geflüchtete, dementierte auf AFP-Anfrage vom 27. Juli ebenfalls die online geteilten Behauptungen. "Niemand wird gezwungen, Geflüchtete bei sich zuhause aufzunehmen oder umzuziehen, um diese unterzubringen. Das ist ein eindeutiges Beispiel für Fake News."
Der neue Gesetzentwurf zwinge Gemeinden dazu, ukrainische Geflüchtete unterzubringen. Aber er schreibe eindeutig nicht vor, dass individuelle Bürgerinnen und Bürger selbst diese aufnehmen müssten, erklärte der Sprecher der Hilfsorganisation. "Es gibt auch keine anderen Gesetze, die so etwas vorschreiben würden."
Die niederländische Justizministerin Dilan Yeşilgöz-Zegerius erklärte zudem auf Nachfrage in einer Debatte zu dem Gesetzentwurf am 6. Juli 2022, dass sie eine Beschlagnahmung von Wohnraum der niederländischen Bevölkerung durch das Gesetz ausschließe. Dies geht aus einer Mitschrift der Debatte hervor. Dazu betonte Yeşilgöz-Zegerius: "Selbst wenn eine unbekannte Anzahl von Personen vor der Tür steht, werden wir, wenn es nach dem Kabinett geht, nicht sagen: 'Ihr Haus, Ihr Dachboden, wird hiermit vom Kabinett beschlagnahmt.'"
Die Ministerin beschwerte sich zudem, dass Abgeordnete in der Debatte davon gesprochen hätten, dass Bürgerinnen und Bürger ihre Gästezimmer aufgeben müssten. Darum gehe es aber nicht, sagte Yeşilgöz-Zegerius. "Wir haben den Bürgermeistern lediglich die Aufgabe übertragen, sich um die Aufnahme der Vertriebenen zu kümmern. Mehr nicht. Es geht also nicht darum, Flächen zu räumen, Verhaltensregeln aufzuerlegen oder Dachböden zu beschlagnahmen. Darum geht es nicht, und es gibt auch keinen Grund, das zu tun."
Zuletzt teilte die niederländische Gemeinde Utrecht mit, ab dem 1. August 2022 für sechs Wochen Sozialwohnungen vorrangig Geflüchteten mit Aufenthaltserlaubnis zur Verfügung zu stellen. In Notfällen werde aber auch anderweitig Wohnraum zur Verfügung stehen. Bedingung der Regelung sei, dass die niederländische Regierung Gelder für den Bau temporärer Wohnungen in den kommenden Jahren freigebe. Die durchschnittliche Wartezeit für Wohnungssuchende betrage in Utrecht aktuell elf Jahre. Mehrere Medien berichteten unterdessen von überfüllten Asylbewerberzentren (hier, hier, hier).
Fazit: Die niederländische Bevölkerung wird nicht dazu gezwungen, Geflüchtete bei sich aufzunehmen. Angesichts der Zahl von ukrainischen Geflüchteten hat die niederländische Regierung zwei Artikel eines alten Gesetzes aktiviert, dass Gemeinden für die Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten verantwortlich macht. Von einer Pflicht einzelner Bürgerinnen und Bürger ist dabei nicht die Rede. Das bestätigte auch das zuständige Justizministerium.