Nein, in Deutschland gilt nicht Besatzungsrecht

  • Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
  • Veröffentlicht am 12. November 2021 um 16:20
  • Aktualisiert am 12. November 2021 um 16:27
  • 4 Minuten Lesezeit
  • Von: Eva WACKENREUTHER, AFP Österreich
Eine Ende Oktober auf Facebook geteilte "Bekanntmachung" aus dem Oktober 2021 verkündet, dass Deutschland nach wie vor unter Kriegsrecht stehe. Es würden die Gesetze der Siegermächte, die sogenannten SHAEF-Gesetze gelten. Tatsächlich ist aber Deutschland nicht mehr besetzt und ein souveräner Staat mit eigener Gesetzgebung. Die Gesetze der Besatzungsmächte hat Deutschland großteils aufgehoben.

Ende Oktober haben Hunderte Nutzerinnen und Nutzer auf Facebook (hier, hier) eine "Bekanntmachung" geteilt. Gezeichnet ist sie von einem "Major T. Jansen", der die Behauptung auch auf seinem 10.000 Mitglieder starken Telegram-Kanal teilte.

Die Falschbehauptung: "Wir weisen Sie ausdrücklich daraufhin, dass Deutschland nach wie vor unter KRIEGSRECHT STEHT!! Hier gelten die Gesetze der Siegermächte, die S.H.A.E.F.Gesetze!", behauptet das Schreiben und "jede Zuwiderhandlung wird mit hohen Strafen belegt!"

Image
Facebook-Screenshot der Falschbehauptung: 03.11.2021

Behauptung aus der "Reichsbürger"-Szene

Die Annahme einer angeblichen Fremdverwaltung Deutschlands durch die alliierten Siegermächte ist in der Reichsbürgerszene beliebt. Eine ähnliche Behauptung, nämlich dass Deutschland ein besetztes Land sei, hat AFP bereits in der Vergangenheit überprüft. Auch die aktuell geteilten Behauptungen greifen das auf.

Wer sind Reichsbürgerbewegung und SHAEF-Anhängerinnen?

Das Milieu der Reichsbürgerinnen und -bürger ist breit gefächert und reicht von Einzelpersonen über länderübergreifende Zusammenschlüsse und Online-Netzwerke. Verbunden sind sie durch die "fundamentale Ablehnung der Legitimität und Souveränität der Bundesrepublik Deutschland sowie der bestehenden Rechtsordnung", wie der vom Bundesinnenministerium veröffentlichte Verfassungsschutzbericht 2020 zusammenfasst. Deutschlandweit schätzt der Bericht die Szene auf etwa 20.000 Personen und rechnet ihr 772 politisch motivierte Straftaten im Jahr 2020 zu.

Das Internetportal "Belltower" der gegen Rechtsextremismus aktiven Amadeo Antonio Stiftung beschäftigte sich in einem Artikel Ende Oktober 2021 mit der SHAEF-Bewegung rund um "Commander Jansen", der die aktuell geteilte angebliche Bekanntmachung unterzeichnet hat. "Genau wie klassische Reichsbürger:innen gehen SHAEF-Anhänger:innen davon aus, dass es sich bei Deutschland um einen besetzten Staat, eine ‚BRD GmbH‘, handeln würde", heißt es in dem Artikel. 

Im Juni 2021 verhandelte etwa das Amtsgericht Wipperfürth in Nordrhein-Westfalen den Fall eines SHAEF-Anhängers, der versucht hatte, eine Verkehrskontrolle zu verhindern, da diese nicht zulässig sei. Im Telegram-Kanal verkündet "Thorsten Gerhard Jansen, Soldat, Befehlshaber S.H.A.E.F." auch regelmäßig "Beurteilungen" von meist bekannten Menschen, in denen er deren Todesurteile und die Art der Umsetzung festhält.

Was war SHAEF wirklich?

SHAEF steht für "Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force", auf Deutsch das Oberkommando der Alliierten Expeditionsstreitkräfte. Ein gemeinsamer Operations- und Planungsstab der USA und Großbritannien hatte das Oberkommando 1943 eingerichtet. Den Posten des Oberbefehlshabers der Alliierten Expeditionsstreitkräfte erhielt der spätere Präsident der Vereinigten Staaten Dwight D. Eisenhower. SHAEF hatte Befehlsgewalt über die Streitkräfte (Luft, See und Land) aller Länder, die an der Invasion der Normandie 1944 beteiligt waren. 1945 wurde das Oberkommando dann aufgelöst.

Historischer Rückblick

"Richtig ist, dass Deutschland im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg besetzt war, im Einklang mit den Bestimmungen des humanitären Völkerrechts", erklärte Dominik Steiger, Lehrstuhlinhaber für Völkerrecht, Europarecht und Öffentliches Recht an der Technischen Universität Dresden, am 8. November gegenüber AFP. 

Diese Besetzung begann demnach mit der Vier-Mächte-Erklärung von Berlin im Juni 1945, in der die Siegermächte die Leitlinien der Besatzungspolitik festlegten, die 1949 mit dem Besatzungsstatut fortgesetzt wurde. Das Besatzungsstatut regelte die Beziehungen zwischen Deutschland und den alliierten Besatzungsmächten. Im Statut war etwa festgeschrieben, dass die Entscheidungsmacht in bestimmten Fragen bei den Alliierten lag, etwa in Bezug auf das Grundgesetz oder die Abrüstung.

Das Besatzungsstatut war allerdings von vornherein befristet angelegt. Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer erreichte auch kurz nach dessen Inkrafttreten einige Zugeständnisse im Petersberger Abkommen von 1949, dazu gehörte etwa das Recht, selbst konsularische Beziehungen zu anderen Ländern aufzunehmen. 1951 wurde das Besatzungsstatut erneut revidiert und mit Inkrafttreten des Deutschlandvertrags und der Pariser Verträge 1955 schließlich ganz aufgehoben. Damit wurde die Bundesrepublik zum souveränen Staat, das Besatzungsstatut erlosch. Der Überleitungsvertrag von 1955 wickelte das Besatzungsregime ab und erlaubte der Bundesrepublik Deutschland von den Besatzungsbehörden erlassene Rechtsvorschriften zu ändern oder aufzuheben. Die Alliierten wurden von Besatzungsmächten zu Verbündeten.

Allerdings behielt die Bundesrepublik einen Sonderstatus bis zur Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags zur Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990. Darin ist festgelegt, dass Deutschland selbst über all seine Gesetze bestimmen kann, die ehemaligen Besatzungsmächte USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion haben keinen direkten Einfluss mehr auf Entscheidungen der Bundesrepublik. In Artikel 7 des Zwei-plus-Vier-Vertrags steht: "Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten."

Gesetze der Alliierten außer Kraft

Die Gesetze, die die Alliierten während der Besatzung Deutschlands erließen, haben dementsprechend heute keine Gültigkeit mehr. Dominik Steiger von der TU Dresden erklärte, dass mit diesen Verträgen die Besatzung seit 1955 beendet sei: "Auch das Besatzungsrecht gilt beinahe ausnahmslos nicht fort. Deutschland steht folglich nicht mehr unter Besatzungsrecht."

Das sieht auch Daniel-Erasmus Khan, Professor am Institut für Öffentliches Recht und Völkerrecht der Universität der Bundeswehr München, so: "Dieses Besatzungsrecht (nicht Kriegsrecht) gilt heute natürlich nicht mehr – und zwar im Wesentlichen schon seit mehr als 60 Jahren", erklärte er am 3. November auf AFP-Anfrage. Zwischen 1956 und 1960 erließ Deutschland seinen Angaben zufolge vier Gesetze zur Aufhebung des Besatzungsrechts. Um sicher zu gehen, dass keine Vorschrift übersehen worden sei, sei das möglicherweise noch bestehende Besatzungsrecht 2007 bis auf eine Ausnahme (das Kontrollratsgesetz Nr. 35) mit dem Gesetz zur Bereinigung des Besatzungsrechts pauschal aufgehoben worden. Der Grund für das Gesetz von 2007 war eine Rechtsbereinigung, erläuterte Khan: "Die Gesetze der Jahre 1956-1960 sind durch dieses Gesetz einzig und allein deshalb aufgehoben worden, weil für sie nach über 50 Jahren kein denkbarer Anwendungsbereich mehr existierte."

Dominik Steiger betont ebenfalls: "Allerspätestens seit dem Gesetz zur Bereinigung des Besatzungsrechts von 2007 sind auch die letzten Reste des Besatzungsrechts aus dem deutschen Recht verschwunden." Ausnahmen seien lediglich das bereits erwähnte und praktisch irrelevante Kontrollratsgesetz Nr. 35 und Normen, die der Gesetzgeber ins deutsche Recht übernommen hat. Aber dies ist eine freie Entscheidung Deutschlands: "In diesem Fall würden diese Normen zwar inhaltlich mit den vom SHAEF erlassenen Rechtsakten übereinstimmen, aber deshalb Vorschriften des deutschen Rechts sein und nicht, weil sie solche des Besatzungsrechts wären."

Fazit: Die Gesetze, die in Deutschland gelten, kann die Bundesrepublik selbst festlegen. Die Gesetze der damaligen Besatzungsmächte wurden in deutsches Recht übernommen oder aufgehoben. Es gibt kein Besatzungsrecht mehr, Deutschland ist ein souveräner Staat.

Haben Sie eine Behauptung gefunden, die AFP überprüfen soll?

Kontaktieren Sie uns