Nein, diese Liste beweist keinen 50-fachen Anstieg an Herzstillständen im Fußball
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- Veröffentlicht am 1. November 2021 um 11:05
- Aktualisiert am 20. Dezember 2021 um 09:43
- 7 Minuten Lesezeit
- Von: Max BIEDERBECK, AFP Deutschland
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Mehr als 1600 Facebook-User haben die Fußballer-Liste allein hier auf Facebook geteilt. Über 100.000 sahen eine ähnliche Aufstellung auf Telegram und auf Twitter.
Die irreführende Behauptung: Das Facebook-Posting präsentiert eine Liste mit 30 Einträgen samt Links. Diese führen größtenteils zu lokalen Nachrichtenberichten über gesundheitliche Notfälle von Trainern, Spielern sowie Schiedsrichterinnen und Schiedsrichtern. Sie alle ereigneten sich während der vergangenen Monate bei Fußballspielen in Europa und der Türkei. Der Posting-Autor beschreibt die Fälle als Herzinfarkte, Herzanfälle, Herzstillstände, als Zusammenbrüche ohne Fremdeinwirkung oder als "Eriksen-Schicksal".
Er führt aus: "Herzstillstand und plötzliche Todesfälle kommen im Fußball vor, sind aber bis jetzt eher selten gewesen..." Exemplarisch vergleicht er seine aktuelle Liste mit einer Liste, die Spiegel Online 2003 veröffentlicht hatte. Diese beschreibt ebenfalls zwölf Spieler-Notfälle zwischen den Jahren 1996 und 2003. Auch diese Liste identifiziert als Hintergrund zum Großteil Herzinfarkte und Herzstillstände von Spielern. (Der Posting-Autor zählte nur zehn Fälle im Spiegel-Artikel.)
Er hält dazu fest: "28 Fälle in ca 4 Monaten = 84 Fälle pro Jahr. Dies im Vergleich zu 10 Fällen zwischen 1996 und 2003! Dies wäre eine Steigerung von Faktor 50!" Dazu postete er ein Bild, das noch einmal explizit den Zusammenhang zu Herzstillständen aufgreift (siehe folgender Screenshot).
Weiter schreibt er: "Es steht da aber natürlich nirgends was über die zwei Spritzen.... Aber wie wir wissen ist ja der größere Teil der Menschen in den westlichen Länder bereits gespritzt."
Die Behauptung ähnelt einer älteren Erzählung, die sich nach dem Zusammenbruch des dänischen Nationalspielers Christian Eriksen bei einem Spiel der EM im Juni 2021 verbreitet hatte. Auch damals führten Impfgegnerinnen und -gegner die Herzprobleme des Spielers auf dessen angebliche Impfung zurück. Dabei war Eriksen überhaupt nicht geimpft. Die aktuell geteilte Liste der 30 Notfälle scheint jetzt erneut eine außergewöhnliche Welle an Herzproblemen zu belegen, die augenscheinlich etwas mit der Impfkampagne gegen Corona zu tun habe – aktuelle Statistiken, die AFP von der Fifa erhalten hat, widersprechen dem allerdings.
Die geteilte Liste aus 2021
Viele der im Posting angegebenen Links führen zu Youtube-Videos, Blog-Artikeln, Sportseiten und Lokalberichten, teils hinter Bezahlschranken. Sie alle berichten tatsächlich von Zwischenfällen auf dem Platz. Der früheste Listeneintrag stammt aus dem November 2020, die anderen Einträge stammen von Berichten zwischen dem 2. August und dem 30. September 2021.
AFP hat diese gesichtet. Die meisten Berichte lassen zwar keinen genauen medizinischen Schluss auf die Geschehnisse zu, berichten aber durchaus von Reanimationen, Herzstillständen oder etwa einer "verstopften Zufuhr zum Herz". Ein Teil erwähnt allerdings lediglich Zusammenbrüche und stellt keinen Zusammenhang zu Herz-Notfällen her.
Das Fifa-Register für Herzstillstände
AFP hat sich zur Aufklärung am 18. Oktober an die Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin gewendet. Dort verwies man auf das sogenannte "Fifa-Register für plötzliche Todesfälle und Herzstillstände", das offiziell seit Januar 2014 genau solche Fälle im Sport erfasst und dokumentiert.
Als Quelle für das Register dienen neben Arztbriefen, Todesbescheinigungen und Autopsieberichten auch Nachrichtenberichte über lokale Zwischenfälle weltweit. Eine Arbeitsgruppe der Universität Saarbrücken unter Leitung von Dr. Florian Egger führt das Register in Kooperation mit der FIFA.
AFP hat Florian Egger am 20. Oktober darum gebeten, sich die Beispiele aus dem Posting anzuschauen. "Tatsächlich hatten wir alle der genannten Fälle bereits in unserem Datensatz enthalten", erklärte der Mediziner gegenüber AFP. Die Hintergründe ließen sich demnach klar nachzeichnen:
Nur 22 der 29 für das Jahr 2021 gelisteten Fälle auf Facebook seien eindeutig auf das Herz zurückzuführen. Bei einem Großteil dieser 22 habe es sich um sogenannte SCAs oder SCDs gehandelt. SCA (Suddan Cardiac Arrest) beschreibt einen überlebten plötzlichen Herzstillstand, SCD (Sudden Cardiac Death) einen plötzlichen Herztod. In den sieben verbleibenden Fällen der Facebook-Liste waren die Gründe für den Zusammenbruch unspezifisch, es gab darunter etwa auch sogenannte Synkopen mit mehreren möglichen Ursachen.
Einer der geteilten Fälle (kein SCA/SCD-Fall) beschrieb laut Egger den Verdacht auf eine sogenannte Myokarditis, also auf eine Herzmuskelentzündung. Der Mediziner dazu weiter: "Eine Herzentzündung ‘kann’ zu einem Herzstillstand führen, muss aber nicht. Häufiger sind starke Müdigkeit und Sportpausen für mehrer Monate, oder die Myokarditis bleibt komplett ohne Beschwerden."
Aus den Erklärungen und Daten Eggers ergibt sich folgende Tabelle:
In der rechten Spalte stehen die SCA/SCD-Zahlen, die die Fifa-Forschenden aus Saarbrücken für das Jahr 2018 weltweit in ihr Register aufgenommen haben (mehr dazu hier). Diese Spalte zeigt also die Zahl der registrierten Herz-Notfälle im Profi-und Amateur-Fußball für das gesamte Jahr 2018.
Dabei handelt es sich um die bislang aktuellste Aufstellung solcher Zwischenfälle. Laut Forscher Egger wird es noch dauern, bis die Fälle 2021 lückenlos und überprüft in das Register eingetragen werden können. Dennoch erklärte Egger: "Nimmt man die auf Facebook verbreitete Liste als Grundlage für 2021, wären das in Abgleich mit unseren aktuell erfassten bereinigten Daten 14 SCA/SCD-Fälle bei Fußballern bzw. 19 Fälle inklusive Schiedsrichtern und Trainern in den vergangenen vier Monaten."
Er führte aus: "Selbst wenn wir diese beiden Zahlen auf das gesamte Jahr 2021 hochrechnen, wären das aktuell noch immer weniger Herz-Notfälle im Fußball als im Prä-Corona-Jahr 2018." Der Sportmediziner stellte klar:
Auch der Vergleich zu den aufgeführten Fällen des Spiegel-Online-Artikels aus dem Jahr 2003 hält Egger für nicht nachvollziehbar: Es würden dort keine detaillierten Angaben über Diagnosen, Anzahl der Länder und Betroffene gemacht oder ein klarer Bezug zum Fußball hergestellt, erklärte Egger und weiter:
Das bestätigte auch Prof. Dr. med. Tim Meyer gegenüber AFP. Er ist Vorsitzender der Medizinischen Kommission des Deutschen Fußballbundes (DFB) und Mannschaftsarzt der deutschen Nationalmannschaft. "Die Schlüsse aus dieser Liste lassen sich in keiner Weise halten ", erklärte er in einem Telefonat am 19. Oktober. Er führte aus:
Herzprobleme im Fußball
Öffentliche Aufmerksamkeit für Herzprobleme im Fußball gab es schon früher, etwa nach dem plötzlichen Tod des kamerunischen Fußballers Marc-Vivien Foé während des Confed Cups 2003. Wie oben beschrieben, brachte der Fall Eriksen bei der Euro21 das Thema erneut in die Schlagzeilen.
Meyer erklärte: "Es gab bestimmt schon immer Todesfälle im Sport, aber sie waren und sind sehr selten." Zwar seien Sportler im Durchschnitt gesünder als Nichtsportler. Aber: "Es gibt leider auch Herzerkrankungen, die man insbesondere im Frühstadium an sich selbst nicht bemerkt und die die Leistungsfähigkeit zunächst nicht beeinträchtigen. Das sind die seltenen Erkrankungen, die man mit Tauglichkeitsuntersuchungen zu finden versucht."
Diese Einschätzung bestätigte eine 2017 von den Forschern Domenico Corrado und Alessandro Zorzi veröffentlichte Studie zu diesem Thema im Fachmagazin "International Journal of Cardiology". Darin heißt es unter anderem:
Die Forscher erläutern: "Das Screening mit EKG ermöglicht die Identifizierung von Sportlern mit asymptomatischen Herzerkrankungen, bei denen das Risiko eines plötzlichen Todes besteht." Bereits im Jahr 2007 hatten Corrado und Zorzi solche Screenings gefordert, um unentdeckte Herzerkrankungen bei Sporttreibenden frühzeitig zu entdecken (mehr dazu hier).
Corona-Impfungen und Herzkrankheiten?
Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) weist im aktuellen Sicherheitsbericht zu den Nebenwirkungen aller Covid-Impfungen darauf hin, dass "eine Analyse der Spontanmeldungen aus Deutschland zu Herzinfarkten und Lungenembolien kein Signal für alle vier Impfstoffe ergab". Dieser Bericht berücksichtigt Meldungen bis zum 31. August 2021.
Auch das österreichische Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) hat für Österreich bis zum 24. September 2021 keine Herzinfarkte im "Bericht über Meldungen vermuteter Nebenwirkungen nach Impfungen zum Schutz vor COVID-19" als Nebenwirkungen aufgeführt. Durchaus enthalten im Bericht sind allerdings 113 Fälle einer Herzmuskelentzündung in zeitlicher Nähe zur Impfung.
Laut PEI-Sicherheitsbericht ist ein Risiko nach mRNA-Impfungen für eine solche Myokarditis festgestellt worden. Das betreffe vor allem junge Männer. Diese Entzündung kann in schweren Fällen zum Herzversagen führen. Jedoch erholen sich laut PEI die meisten Patienten schnell wieder. Das Institut stuft die Nebenwirkung als "sehr selten" ein. Ähnliches schreibt die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) aktuell auf ihrer Seite und spricht von "sehr seltenen Fällen". Mehr grundsätzliche Informationen zum Thema Myokarditis und Sport finden sich hier.
Fazit: Die verbreitete Liste zeigt tatsächlich mehr oder weniger gut dokumentierte Notfälle auf dem Platz, unter anderem auch von Herzstillständen. Keine Aussagekraft hat aber laut Experten der darauf aufbauende Vergleich mit einer älteren Liste und der Behauptung eines Anstiegs der Fälle im Jahr 2021. Laut "Fifa-Register für plötzliche Todesfälle", das solche Fälle auch für Deutschland dokumentiert, gab es bis heute keinen Anstieg an Fällen im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2018. Zwar sind Herzmuskelentzündungen als Nebenwirkung von mRNA-Impfstoffen bekannt, allerdings laut PEI und EMA sehr selten.
20. Dezember 2021 Link ausgebessert.
10. Dezember 2021 Fehler in Jahreszahl korrigiert