Nein, Deutsch wurde nicht zur zweiten "Amtssprache" Tschechiens erklärt
- Veröffentlicht am 18. November 2024 um 12:00
- Aktualisiert am 18. November 2024 um 12:01
- 6 Minuten Lesezeit
- Von: Ladka MORTKOWITZ, AFP Tschechien
- Übersetzung: Lisa-Marie ROZSA
Copyright © AFP 2017-2024. Für die kommerzielle Nutzung dieses Inhalts ist ein Abonnement erforderlich. Klicken Sie hier für weitere Informationen.
"Es ist jetzt möglich, Deutsch als zweite Amtssprache in den Grenzgebieten zu sprechen", behauptet Robin Čumpelík, Autor des tschechischen Projekts "Innovation der Republik", in diesem Video. Seine Beiträge wurden bereits in der Vergangenheit von AFP verifiziert.
"Ohne unser Wissen, hinter unserem Rücken, ohne Medienaufmerksamkeit wurde die Erweiterung der Befugnisse für die deutsche Minderheit in Tschechien genehmigt", fügte er hinzu. Čumpelík behauptete auch, dass deutschsprachige Minderheiten nicht einmal "bei der Gründung der Tschechoslowakei im Jahr 1918" über eine solche Macht verfügten – als sie einen bedeutenderen Teil der Bevölkerung des Landes ausmachten. Er sagte weiter, dass die Maßnahme "der Schaffung des Protektorats Böhmen und Mähren ähnelt" und die tschechische Regierung "über uns und völlig ohne uns" entschieden hätte.
Der Begriff "Protektorat Böhmen und Mähren" bezieht sich auf das Münchner Abkommen von 1938, als Frankreich, Großbritannien und Italien vereinbarten, die als Sudetenland bekannten Grenzgebiete der damaligen Tschechoslowakei an Nazideutschland abzutreten.
Das Video auf Čumpelíks Youtube-Kanal wurde von Tausenden von Nutzerinnen und Nutzern auf Facebook geteilt, zum Beispiel hier oder hier. Es wurde auch über verschiedene Websites verbreitet, etwa hier oder hier. Auch auf der Website Aeronet – deren Inhalte mehrfach von AFP überprüft wurden – wurde das Video geteilt. Hier ging man sogar so weit, vor der "schleichenden Rückgermanisierung des Lebensraums" zu warnen.
Čumpelíks Behauptung, die tschechische Regierung habe heimlich Deutsch zur "Amtssprache" in Teilen Tschechiens erhoben, ist jedoch falsch.
Entscheidung der Regierung wurde nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit getroffen
Am 28. Februar 2024 veröffentlichte die Regierung auf ihrer Website die Entscheidung, den Schutz der deutschen Sprache auf die höchste Stufe gemäß der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (hier und hier archiviert) anzuheben. Medien berichteten damals ausführlich darüber, zum Beispiel hier.
Die Entscheidung war der Höhepunkt eines Prozesses, der am 22. Oktober 2019 unter der vorherigen Regierung von Andrej Babiš begann, der auch den Vorsitz in einem Rat zur Vertretung nationaler Minderheiten in Tschechien innehatte (hier archiviert).
Die Regierung unter der Leitung von Petr Fiala genehmigte im Dezember 2022 den Bericht einer Arbeitsgruppe zur Ausweitung des Schutzes der deutschen Sprache. Beide Kammern des Parlaments genehmigten diesen im folgenden Jahr (hier und hier archiviert).
"Der Europarat fordert Tschechien seit langem auf, den Schutz der deutschen Sprache auszuweiten", erklärte Regierungssprecherin Lucie Ješátková am 31. Oktober 2024 in einer E-Mail an AFP (hier archiviert). Sie erklärte, dass das Land Teil der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, die von 25 Ländern unterzeichnet wurde, sei. "Deutsch ist eine der traditionellen Sprachen, die in Tschechien noch gesprochen werden, wenn auch in viel geringerem Umfang als früher", fügte Ješátková hinzu.
Die Maßnahme gilt für acht Bezirke mit aktiven deutschen Minderheitenverbänden.
"Die Regionen wurden in Zusammenarbeit mit der Vereinigung deutscher Verbände in Tschechien ausgewählt", sagte Ješátková.
Der Begriff "Amtssprache" ist irreführend
Ješátková betonte, dass Deutsch nicht die einzige Minderheitensprache sei, die auf diese Weise geschützt werde. Der höchste Schutzstatus wurde auch auf Slowakisch im ganzen Land und auf Polnisch in den Bezirken Karviná und Frýdek-Místek ausgedehnt. Mährisches Kroatisch und Romanes sind zwei weitere Minderheitensprachen mit einem geringeren Schutzniveau, sagte sie (hier archiviert).
Darüber hinaus habe der Begriff "Amtssprache" keine Grundlage im tschechischen Recht.
Gemäß tschechischem Verwaltungsgesetzbuch gibt es nur das Konzept der "Verfahrenssprache" – die Sprache, die im Umgang mit Behörden verwendet wird, die traditionell Tschechisch ist, aber Minderheitensprachen zulässt (hier archiviert).
René Petráš, ein auf nationale Minderheiten spezialisierter Anwalt, erklärte gegenüber dem Tschechischen Rundfunk, dass der Begriff "Amtssprache" irreführend sei und dass "unser Rechtssystem so etwas nicht kennt" (hier archiviert).
"Staatbürgerinnen und Staatsbürger Tschechiens, die einer nationalen Minderheit angehören, die historische Wurzeln in Tschechien hat, haben das Recht, sich in ihrer Minderheitensprache gegenüber Verwaltungsbehörden auszudrücken", heißt es im Gesetz.
Staatbürgerinnen und Staatsbürger haben auch das Recht, zertifizierte Dolmetscherinnen und Dolmetscher heranzuziehen, wenn niemand die Sprache der nationalen Minderheit spricht – die Kosten dafür trägt der Staat.
Nach tschechischem Recht war bereits vor der Entscheidung der Regierung vom Februar 2024 die Verwendung der deutschen Sprache erlaubt. Aber durch den Schutzstatus der Charta "wurde das Gebiet definiert, in dem Deutsch als traditionelle und gleichzeitig lebendige Sprache gilt", sagte Ješátková.
In vielen Regionen versuchen die Behörden bereits, nicht tschechischsprachigen Bürgerinnen und Bürgern entgegenzukommen. Laut der Sprecherin der Stadt Svitavy, Kateřina Kotasová, stellt die Stadt beispielsweise Dolmetscherinnen und Dolmetscher zur Verfügung, "egal ob es sich um Deutsch oder Englisch handelt" (hier archiviert).
Deutsch wird in Tschechien immer weniger gesprochen
Jahrhundertelang bildeten Deutsche eine bedeutende Minderheit in den tschechischen Ländern. 1930 lebten in der Tschechoslowakei etwa 3,15 Millionen Menschen deutscher Abstammung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es jedoch zu einem erheblichen Bevölkerungsrückgang, nachdem etwa drei Millionen Menschen als "Nachkriegsvergeltung" in das kriegszerstörte Deutschland vertrieben worden waren (hier archiviert).
Daten des tschechischen Statistikamtes zeigen, dass 1991 noch 48.556 in Tschechien lebende Staatsbürgerinnen und -bürger ihre deutsche Staatsangehörigkeit angaben. Diese Zahl ist jedoch bis 2021 auf nur noch 9128 Menschen gesunken (hier archiviert).
Die Verlängerung des Schutzes der deutschen Sprache sei eine "freundliche, aber derzeit eher symbolische Geste, die eigentlich zu spät kommt", sagte Martin Veselý, außerordentlicher Professor für kulturhistorische Landeskunde an der J.E. Purkyně-Universität in Ústí nad Labem in Tschechien (hier archiviert).
"Wenn man bedenkt, dass die deutschsprachige Bevölkerung in unserem Land nach dem Krieg auf ein absolutes Minimum geschrumpft ist, ist die Vorstellung, dass dies in größerem Umfang angewendet wird, völlig abwegig", sagte er am 31. Oktober 2024 in einem Interview mit AFP.
Angehörige deutscher und ungarischer Minderheiten wurden nach dem Krieg von der tschechoslowakischen Exilregierung unter Edvard Beneš ihrer Staatsbürgerschaft beraubt und millionenfach deportiert.
In dem Video sagte Čumpelík, dass die Erhebung des Deutschen zur "Amtssprache" einer "Verletzung der Beneš-Dekrete" gleichkomme. Hierbei handle es sich um Gesetze aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die von der Exilregierung verabschiedet und von Präsident Beneš nach Kriegsende ratifiziert wurden.
"Die große Mehrheit der Tschechinnen und Tschechen weiß nicht einmal mehr, was die Beneš-Dekrete sind, aber sie stellen sich vor, dass die Deutschen zurückkehren werden, wenn diese verletzt werden", erklärte Experte Veselý und fügte hinzu, dass das Video das anhaltende Misstrauen ausnutzt, dass Nachkommen der Vertriebenen versuchen könnten, den Besitz ihrer Vorfahren einzufordern.
"Das ist natürlich völliger Unsinn. Die meisten von ihnen sind nicht mehr daran interessiert ... sie sind eher Nachkommen der nach dem Krieg Vertriebenen. Sie wollen höchstens mal vorbeischauen", sagte Veselý. Er ergänzte, dass das Video darauf abziele, "durch das Aufwerfen dieses Themas Aufmerksamkeit zu erregen".
"Die Wahrheit ist, dass die Deutschkenntnisse unserer jungen Leute mit erschreckender Geschwindigkeit abnehmen. Das Ganze ist also viel Lärm um Nichts", schloss er.
Fazit: Deutsch wurde in Tschechien nicht als zweite Amtssprache festgelegt. Im Februar 2024 wurde lediglich der Schutz des Deutschen als Minderheitensprache ausgeweitet.