Dieses Video zeigt eine Wahlveranstaltung in Brasilien, keinen Protest gegen angeblichen Wahlbetrug
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- Veröffentlicht am 25. November 2022 um 16:41
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- Von: AFP Kanada, AFP Frankreich, AFP Brasilien, AFP Deutschland
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Mehrere Dutzend Facebook-User haben seit Anfang November ein Video geteilt, das eine Versammlung gegen angeblichen Wahlbetrug bei der Präsidentschaftswahl im Oktober 2022 zeigen soll. Auch auf Twitter wurde die Behauptung von französischsprachigen und englischsprachigen Usern geteilt.
Die Behauptung: Das Video soll einen "Generalstreik und Massenproteste gegen den Wahlbetrug in Brasilien" zeigen, bei dem sich Tausende in Rio de Janeiro zusammengefunden haben, um die Niederlage des abgewählten Präsidenten Bolsonaro anzufechten und den angeblichen Wahlbetrug anzuprangern.
Ein Video aus dem September 2022
Am 30. Oktober 2022 fand in Brasilien eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten Jair Bolsonaro und Luiz Inácio Lula da Silva, kurz Lula statt: Der ehemalige Präsident Bolsonaro verlor gegen den Kandidat der Linken. In den Tagen nach dem Sieg Lulas haben Anhänger Bolsonaros in rund einem Dutzend brasilianischer Städte wie Sao Paulo und Brasilia insbesondere vor Militäreinrichtungen demonstriert und das Einschreiten der Armee gefordert.
Ähnliches spielte sich auch am 2. November 2022 in Rio de Janeiro ab, wo Tausende Demonstrierende vor dem Gebäude des Militärkommandos sangen: "Lula, du Dieb, dein Platz ist im Gefängnis!". Das meldeten die Nachrichtenagentur AFP und verschiedene brasilianische Medien. Zahlreiche Straßen waren zudem als Ausdruck des Protests gegen das Wahlergebnis blockiert worden.
Das oft geteilte Video dagegen zeigt eine Demonstration Zehntausender Unterstützer Bolsonaros in Rio de Janeiro, wurde aber tatsächlich am 7. September 2022 aufgenommen. Durch eine Rückwärtssuche mit einem Screenshot konnte AFP das Originalvideo ausfindig machen.
Ursprünglich hatte ein brasilianisches Twitterkonto das Video am 11. September 2022 geteilt und im Tweet vermerkt, dass die Demonstration am 7. September 2022, dem brasilianischen Nationalfeiertag, stattgefunden hatte.
Die Aufnahme zeigt eine Pro-Bolsonaro-Kundgebung in Rio de Janeiro, bei der gleichzeitig die 200-jährige Unabhängigkeit Brasiliens gefeiert wurde. Über die Veranstaltung berichteten zu diesem Zeitpunkt zahlreiche Medien. AFP sprach am Tag der Demonstration von einer "gelb-grünen Flut" an der Copacabana.
Der Cybersicherheitsingenieur Baptiste Robert, der sich dem Aufdecken von Falschmeldungen widmet, stieß ebenfalls durch eine Bildrückwärtssuche auf das Originalvideo, wie er in einem Twitter-Thread vom 7. November erklärte.
Die beiden verglichenen Videos haben die gleiche Länge und erscheinen identisch: Sowohl im ursprünglichen Tweet vom 7. September 2022 als auch im Post, der nach der Wahl veröffentlicht wurde, sieht man einen großen Kran, an dem eine Brasilienfahne befestigt ist, sowie die gleichen Farbverläufe in der Menschenmenge.
Mehrere Fotos, die verschiedene Medienvertreter am 7. September von der Demonstration aufgenommen haben, belegen zusätzlich, dass sich die Szenen im Video vor der Wahl abgespielt haben. Auch auf einem Foto, das ein AFP-Journalist vor Ort geschossen hat und das Ähnlichkeiten mit dem geteilten Video aufweist, ist der Kran mit der brasilianischen Flagge zu sehen.
Die internationale Presse berichtete zu diesem Zeitpunkt ebenfalls über das Geschehen. Dazu gehören französische und internationale Medien wie Le Monde oder die amerikanische Agentur Associated Press. Auch die Tagesschau berichtete.
Jair Bolsonaro "autorisierte den Wechsel" zu Lula und forderte Aufhebung der Straßenbarrieren
Jair Bolsonaro, immer noch amtierender Präsident bis zum 1. Januar 2023, hatte in den Tagen nach der Wahl nichts unternommen, um den Zweifel auszuräumen, ob er nicht vielleicht doch die Wahl Lulas zum Präsidenten anfechten würde.
Auch wenn der unterlegene Bolsonaro seine Niederlage nicht explizit anerkannt hatte und seinem Gegner Lula nicht zum Sieg gratuliert hatte, so versicherte sein Kabinettschef, dass Bolsonaro "den Wechsel" zu einer zukünftig linken Regierung "autorisiert" habe.
Am 3. November 2022 wandte sich Jair Bolsonaro in einem kurzen Video auf Social Media an seine Anhängerinnen und Anhänger, um sie dazu aufzufordern, die Straßensperren aufzulösen, die sie Ende Oktober und Anfang November errichtet hatten. Das berichtet diese AFP-Meldung, die außerdem vermeldet, dass in "Rio de Janeiro am Donnerstagmorgen (3. November 2022) nur gut ein Dutzend unerbittlicher Demonstranten vor einer Militärkaserne verblieben waren, von denen einige die Nacht in Zelten verbracht hatten."
Nichtsdestotrotz hatte Bolsonaro die Demonstrationen vor den Kasernen und anderen Militäreinrichtungen für "legitim" erklärt, die Zehntausende Menschen am 2. November 2022 in einem Dutzend brasilianischer Städte zusammengebracht hatten.
Am 5. November 2022 waren die Straßensperrungen der Demonstrierenden, die Bolsonaros Niederlage nicht akzeptieren wollten, beinahe gänzlich verschwunden. Nur wenige Dutzend protestierten unbeirrt weiter vor den Kasernen, wie in einer weiteren AFP-Meldung zu lesen ist.
Eine Zählung der Bundesstraßenpolizei von Anfang November ergab lediglich fünf Straßensperren in zwei der 27 Bundesstaaten des Landes, von denen keine den Verkehr vollständig behinderte.
Fazit: Das auf Facebook verbreitete Video zeigt keinen Protest in Rio de Janeiro gegen den angeblichen Wahlbetrug des neuen brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva. Es zeigt eine Demonstration, die am 7. September 2022 und damit vor der Wahl am 30. Oktober stattgefunden hat. Fotos, die verschiedene Medien von der Kundgebung für Bolsonaro aufgenommen hatten, zeigen übereinstimmende Szenen.