Dieses Protest-Video ist nicht der Grund für Mario Draghis Abreise vom Nato-Gipfel
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- Veröffentlicht am 13. Juli 2022 um 15:24
- Aktualisiert am 14. Juli 2022 um 16:56
- 6 Minuten Lesezeit
- Von: Saladin SALEM, AFP Deutschland
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Hunderte User haben sei Anfang Juli ein angeblich aktuelles Video italienischer Proteste auf Facebook geteilt. Auch auf Telegram und Twitter sahen Tausende den Clip mit den Behauptungen. Eine ähnliche englischsprachige Behauptung wurde von Tausenden geteilt.
Die Behauptung: Ein Video von einer protestierenden Menschenmasse wird im Netz verbreitet. Zu sehen sind mehrere italienische Flaggen und aufgebrachte Menschen. Daraufhin habe der italienische Regierungschef seinen Besuch des Nato-Gipfels im Juni 2022 frühzeitig abbrechen müssen. Die Italienerinnen und Italiener verlangten angeblich die Absetzung der Regierung.
Vom 28. bis 30. Juni 2022 fand in Madrid der Nato-Gipfel der Staats- und Regierungschefs statt. Neben dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nahm auch der italienische Ministerpräsident Mario Draghi an dem Gipfel teil. Seine Abreise hat allerdings nichts mit dem nun verbreiteten Protestvideo zu tun.
Was zeigt das Video?
Der vermeintlich aktuelle Clip zeigt eine Protestszene vom 9. Oktober 2021 in Rom. Mehrere italienische Medien berichteten damals über die Demonstration, die sich gegen den sogenannten "Grünen Pass" richtete (hier, hier, hier).
Der Grüne Pass in Italien ist ein Nachweis, der zeigt, ob jemand von Corona genesen, negativ getestet oder geimpft ist. Der Besitz eines solchen Passes war in Italien startend mit dem 15. Oktober 2021 vorübergehend für alle Arbeitnehmerinnen und -nehmer Pflicht, was zu Demonstrationen im ganzen Land führte. Seit dem 1. Mai 2022 hat Italien allerdings die meisten Auflagen im Zusammenhang mit dem Grünen Pass wieder abgeschafft. Ausnahmen gelten beim Besuch von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.
Der Ursprung des nun geteilten Videos vom 9. Oktober 2021 lässt sich anhand einer Recherche verschiedener Aufnahmen der Demonstration nachvollziehen. Der Clip wurde auf dem Piazza del Popolo im Zentrum Roms aufgenommen. Dieser lässt sich durch den gut erkennbaren Obelisken im Bild identifizieren, sowie die im Hintergrund zu sehende Kirche Santa Maria dei Miracoli. Im Video rechts ist zudem eine Wache der italienischen Militärpolizei zu erkennen, die Arma dei Carabiniei Comando Legione Regione Lazio Roma sowie der Eingang des Museo Leonardo Da Vinci.
Weitere Aufnahmen der Demonstration vom 9. Oktober 2021 scheinen zudem die gleiche Perspektive auf die Menschenmenge zu zeigen. Im folgenden am 9. Oktober 2021 auf Twitter hochgeladenen Video ist ein solches Beispiel zu sehen. Neben zahlreichen italienischen Flaggen ist zudem eine sardische Flagge mit rotem Kreuz zu erkennen, die in beiden Clips erscheint.
Beide Videos scheinen von einer Bühne aus aufgenommen worden zu sein. Ein passendes Gerüst ist in den Clips zu sehen. Auch AFP war am 9. Oktober 2021 vor Ort und fotografierte die Menschenmasse von der Bühne aus. In der folgender AFP-Aufnahme ist vor der Bühne ebenfalls die sardische Flagge zu erkennen. Im aktuell geteilten Video ist außerdem eine italienische Fahne mit schwarzem Kreuz zu sehen, die auch im AFP-Foto auftaucht.
Auch die Szenen eines weiteren Videos decken sich damit. Es wurde am 9. Oktober 2021 veröffentlicht und ist als Video der Proteste in Rom am selben Tag beschrieben. Die italienische Flagge mit dem Kreuz taucht darin genauso auf wie kurz dahinter eine rot-gelbe Flagge. Die Fahnen finden sich in beiden Videos an einer ähnlichen Position wieder.
Das aktuell auf Facebook geteilte Video zeigt am linken Bühnenrand zudem eine brennende Leuchtfackel, die den Rauch verursacht, der im Clip zu sehen ist. Die Fackel findet sich auch in dem Youtube-Video vom Oktober 2021wieder.
Auch einige Menschen sind in beiden Videos in der Menge identifizierbar. Im Folgenden Vergleich sind jeweils ein Mann in schwarzem Shirt mit weißer Aufschrift, davor eine blonde Frau mit Sonnenbrille und links von ihnen ein Mann in rotem Shirt zu sehen. Ihre Position ähnelt sich in beiden Clips. Auch in einem AFP-Bild sind dieselben Menschen erkennbar.
Die Bühne und Flaggen sind zudem in einem Livestream des Kanals "Verona News" auf Youtube zu sehen. Genau wie in dem aktuell auf Facebook geteilten Video sind im Stream Sprechchöre mit den Worten "Draghi, vaffanculo!" zu hören. Übersetzt bedeutet das "Draghi, verpiss dich!".
Abreise vom Nato-Gipfel
Der italienische Ministerpräsident Mario Draghi reiste tatsächlich vorzeitig vom Nato-Gipfel in Madrid ab. Das hat allerdings nichts mit angeblichen Protesten in Italien zu tun, die eine Absetzung der Regierung gefordert haben sollen.
Wie AFP am 29. Juni berichtete, nahm Draghi nicht am letzten Tag des Nato-Gipfels am 30. Juni teil. Das Büro des Ministerpräsidenten teilte mit, Draghi sei vorzeitig abgereist, um sich auf eine Kabinettssitzung am kommenden Tag vorzubereiten, bei der es um die Bewältigung steigender Energiekosten gehe. Die italienische Nachrichtenagentur Ansa beschrieb die Atmosphäre der Regierungskoalition als angespannt.
Bereits am 22. Juni berichtete AFP, die sogenannte Fünf-Sterne-Bewegung, die größte Fraktion in der Koalition, sei im Streit um den Ukraine-Krieg zerbrochen. Gut ein Viertel der Fraktionsabgeordneten trennte sich von der Bewegung.
AFP konnte in eigener Recherche keine ähnlichen landesweiten Demonstrationen während des Nato-Gipfels ausfindig machen. Es gab lediglich Berichte über vereinzelte kleinere Demonstrationen gegen die Draghi-Regierung oder aufgrund gestiegener Energiepreise (hier, hier, hier), die allerdings nicht Draghis Abreise verursachten.
Fazit: Das online verbreitete Video zeigt keine aktuellen Proteste gegen die italienische Regierung. Es entstand bei einer Demonstration gegen den sogenannten Grünen Pass, einen italienischen Impfnachweis, im Oktober 2021. Mario Draghi verließ den Nato-Gipfel im Juni 2022 frühzeitig, um sich auf eine Kabinettssitzung nach einem Streit in der italienischen Regierungskoalition vorzubereiten.
14. Juli 2022 Link korrigiert
14. Juli 2022 weitere Bildvergleiche ergänzt