Nein, es gibt keine Belege für 14 Impfkomplikationen mit Todesfolge auf einer deutschen Intensivstation

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  • Veröffentlicht am 1. Oktober 2021 um 10:02
  • Aktualisiert am 1. Oktober 2021 um 10:04
  • 6 Minuten Lesezeit
  • Von: Saladin SALEM, AFP Deutschland
Tausende User auf Instagram haben seit Mitte September den Bericht eines anonymen Verfassers oder einer anonymen Verfasserin geteilt, in dem von zahlreichen Toten auf einer Intensivstation innerhalb eines Tages die Rede ist. Alle Verstorbenen hätten zuvor ihre zweite Impfung erhalten, heißt es darin. Da die Impfung aber keine 14 Tage her gewesen sei, würden die Menschen als Covid-Tote gelten, obwohl sie an Impfkomplikationen gestorben seien. Echte Covid-19 Fälle habe es auf der Station nicht gegeben. So viele Covid-Todesfälle an nur einem Tag hat es nach Behördenangaben im angegebenen Zeitraum in Deutschland aber gar nicht gegeben. 

Tausende Nutzerinnen und Nutzer haben den vermeintlichen Bericht einer Intensivstation auf Instagram gesehen (hier). Ein Arzt soll diesen an den Instagram-Kanal einer "Gegen Zeitung" geliefert haben. Auch auf Facebook haben Hunderte User die Meldung geteilt (hier, hier, hier). Auf Telegram haben Tausende die Nachricht gesehen (hier, hier).

Die Behauptung: Auf einer Intensivstation soll es innerhalb von 24 Stunden 14 Todesfälle gegeben haben. Dies soll ein Arzt anonym der "Gegen Zeitung" berichtet haben. Das Medium verbreitet nach eigenen Angaben auf Instagram Berichte "abseits der öffentlich-rechtlichen Medien". Laut des vermeintlichen Arztes hätten alle Verstorbenen auf der Intensivstation zuvor ihre zweite Corona-Impfung erhalten. Sie würden jedoch nicht als Impfkomplikation gewertet, sondern als Covid-Tote, weil ihre Impfung noch keine 14 Tage zurückgelegen habe. Echte Covid-19-Fälle gebe es dagegen nicht mehr auf der Station. Die "Pandemie der Ungeimpften" sei demnach ein Märchen. Eine identische Meldung findet sich auf Facebook und Instagram wieder. Dort wird die Intensivstation zum Teil in den Kreis Segeberg in Schleswig-Holstein verortet.

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Instagram-Screenshot der Falschmeldung: 17.09.2021

Gab es die beschriebenen Todesfälle tatsächlich?

AFP hat zunächst den Zeitraum der angeblichen Todesfälle eingegrenzt und dazu die Details des angeblichen Berichts gesichtet. "Soeben haben wir diese Nachricht von einem Arzt erhalten", heißt es in dem am 10. September auf Instagram veröffentlichten Beitrag. Der besagte Arzt wiederum erläutert in seinem Text, die Todesfälle hätten sich "gestern" ereignet. Zur Überprüfung hat sich AFP daher mit auffälligen Meldungen von Intensivstationen im Zeitraum zwischen dem 8. und 10. September beschäftigt. 

Im Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) sind die Tagesberichte zu Covid-19-Todesfällen aus dem Zeitraum abrufbar. Für den 9. September listet das DIVI 103 gemeldete Todesfälle. Am Vortag waren es noch 26 Verstorbene, am Folgetag 30 Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19.

Der Impfstatus der Verstorbenen geht aus den Tagesberichten dabei nicht hervor. Zudem findet sich auf der DIVI-Webseite ein Hinweis zu den Daten des 9. September: "Im Tagesreport vom 09.09.21 wird eine auffällig hohe Anzahl an Verstorbenen berichtet. Diese ist durch eine Korrektureingabe eines Krankenhauses zu erklären."

Eine Sprecherin des Intensivregisters teilte AFP am 22. September per E-Mail mit, dass nur ein Klinikverbund in dem Zeitraum auffällige Zahlen gemeldet habe. Dieser habe allerdings Nachmeldungen vorgenommen.

Zur weiteren Überprüfung kontaktierte das Intensivregister nach der AFP-Anfrage das Robert-Koch-Institut (RKI), welches das Infektionsgeschehen in Deutschland beobachtet. Eine RKI-Sprecherin teilte am 24. September gegenüber AFP und DIVI mit, es habe sich um einen Klinikverbund gehandelt, welcher Todeszahlen für jeweils drei Standorte komplett seit dem 01. Januar 2020 nachgemeldet habe. Desweiteren hieß es:

"Nur ein Krankenhaus lag dabei weit über 14, die anderen lagen darunter. Da ich diese Zahlen, die tatsächlich dann am 8./9. September 2021 nachgemeldet wurden, jedoch schon viele Wochen vorher kannte (ich hatte einen längeren Mailkontakt mit der Klinik), kann ich somit ausschließen, dass in diesem genannten Zeitraum ein Krankenhaus 14 Verstorbene für einen Tag gemeldet hat. Auch kein anderes Krankenhaus hat so hohe Zahlen gemeldet. Keine einzige Intensivstation hat also 14 Verstorbene an einem Tag gemeldet."

AFP kontaktierte zudem die zuständigen Ministerien und Gesundheitsämter aus allen 16 Bundesländern direkt für eine Überprüfung. Mit Ausnahme von Bremen erhielt AFP aus allen Bundesländern eine Rückmeldung zu den Behauptungen. Auch dort fanden sich den Informationen der Ämter zufolge keine Belege für die angeblichen Todesfälle durch Impfkomplikationen. In den meisten Fällen lässt sich die Behauptung schon allein auf Basis der Fallzahl an Covid-Todesopfern nicht belegen. Diese fällt für den genannten Zeitraum zu gering aus. 

Die gemeldeten Covid-19-Todesfälle für das Land Bremen sind dabei auf der Webseite des Statistik-Portals Statista einsehbar. Dort werden im Zeitraum vom 8. bis zum 12. September nur zwei neue Todesfälle verzeichnet. 

Im Fall von Nordrhein-Westfalen wurden zwar am 9. September insgesamt 15 Todesfälle verzeichnet. Dabei handele es sich aber um die Gesamtzahl der Verstorbenen in dem Bundesland unabhängig vom Sterbeort, teilte ein Sprecher des Gesundheitsministeriums Nordrhein-Westfalen am 22. September gegenüber AFP mit. "Eine Konzentration von 14 Verstorbenen an einem Tag auf einer Intensivstation ist damit nicht plausibel," schrieb der Sprecher weiter. 

Von solch einem auffälligen Fall hätten die Behörden "sehr wahrscheinlich Kenntnis gehabt", erklärte der Sprecher. Zudem würden Geimpfte mit möglichen Impfkomplikationen überhaupt erst nur dann in die Covid-Statistik eingehen, wenn gleichzeitig der Nachweis einer Infektion durch einen PCR-Test erfolgt sei. "Dass das an einem Tag in 14 Fällen auf einer Intensivstation der Fall gewesen sein soll, erscheint sehr unplausibel."

Auch der Sprecher des Gesundheitsministeriums Brandenburg erklärte gegenüber AFP am 24. September:

Eine Nachfrage bei der Verwaltung des Kreises Segeberg, welcher in einigen Beiträgen erwähnt wird, lieferte ebenfalls keine Belege für die angeblichen 14 Todesopfer. Eine Sprecherin der Kreisverwaltung teilte am 20. September mit, im betroffenen Zeitraum seien keine geimpften Personen mit Verdacht auf Impfkomplikationen in einer der Kliniken im Kreis Segeberg aufgenommen worden. Auch habe es keine Patientinnen oder Patienten gegeben, die an den Diagnosen Lungenarterienembolie oder Sinusvenenthrombose verstorben wären.

"In dem von Ihnen genannten Zeitraum ist niemand an oder mit Covid-19 im Kreis Segeberg verstorben. Im Zeitraum 6. bis einschließlich 17.9. waren es insgesamt vier Menschen. In keinem Fall handelt es sich jedoch um Impfkomplikationen, sondern um per PCR-Test nachgewiesene Corona-Infizierte."

Werden Patienten mit Impfkomplikationen nicht erfasst?

Das Robert-Koch-Institut erläutert zum Impfstatus auf seiner Webseite, dass Geimpfte tatsächlich dann als "geschützt" gelten, wenn "nach Gabe der letzten Impfstoffdosis mindestens 14 Tage vergangen sind."

Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI), welches für die Beobachtung der Impfstoffe in Deutschland zuständig ist, veröffentlicht regelmäßige Sicherheitsberichte, in denen auch auf mögliche Impfkomplikationen eingegangen wird. Darin wird auch die Methodik der Erfassung erläutert. Dass die Meldung von Impfkomplikationen daran geknüpft wäre, dass Patienten bereits als vollständig geschützt gelten, geht daraus allerdings nicht hervor. 

Auf AFP-Anfrage schrieb eine Sprecherin des PEI zur Erfassung von Impfkomplikationen am 22. September: "Jeder Mensch, der eine Impfdosis erhalten hat, ist ‘geimpft’. Er ist möglicherweise nur noch nicht vollständig geimpft im Sinne der Schutzmaßnahmen-Ausnahmeverordnung. Die 14 Tage beziehen sich darauf, wann der vollständige Impfschutz einsetzt. Das hat aber nichts mit der Definition von ‘geimpft’ zu tun."

Sofern Menschen auf der Intensivstation ohne nachgewiesene Sars-CoV-2 Infektion und ohne typische Symptome versterben, könne dies nicht als Tod durch Covid-19 gewertet werden, erläutert das PEI weiter. "Jeder Todesfall, der dem Paul-Ehrlich-Institut als Verdacht einer Impfkomplikation gemeldet wird, wird daraufhin untersucht, ob es einen ursächlichen Zusammenhang mit der Impfung gegen könnte."

Der aktuelle Sicherheitsbericht des PEI zeigt solche gemeldeten Verdachtsfälle von Nebenwirkungen. Dort sind auch Fälle gelistet, die bereits kurz nach der Impfung auftraten. So erhielt das Institut auch Meldungen zu Patientinnen und Patienten, welche zwei bis drei Tage nach der Impfung von Brustschmerzen berichteten oder neun Tage nach der Impfung einen Kollaps mit Krampfanfall erlitten. Die in den Postings angegebene Zeitspanne von 14 Tagen ergibt in diesem Zusammenhang also keinen Sinn.

Handelt es sich um eine Pandemie der Ungeimpften?

Das Infektionsgeschehen lässt sich anhand der Veröffentlichungen des Robert-Koch-Instituts nachvollziehen, welches Daten der zuständigen Gesundheitsämter bezieht. So lassen sich im Wochenbericht vom 16. September auch die Zahl der Impfdurchbrüche, also symptomatische Infektionen bei vollständig Geimpften, herauslesen. 

Im Zeitraum vom 16. August bis 6. September hat es demnach bundesweit über alle Altersklassen verteilt 23.732 Impfdurchbrüche gegeben. Im selben Zeitraum beläuft sich die Anzahl der symptomatischen Covid-19-Fälle in Deutschland auf insgesamt 125.749 gemeldete Fälle.

Fazit: Für die angeblichen 14 Todesfälle auf einer Intensivstation gibt es keine Belege. Weder das Intensivregister, noch die Bundesländer können die Zahlen nachvollziehen. Das Paul-Ehrlich-Institut erfasst alle gemeldeten Verdachtsfälle von Nebenwirkungen bei Menschen, die eine Impfung erhalten haben - unabhängig davon, ob ein vollständiger Impfschutz vorliegt. Die Zahlen des Robert-Koch-Instituts zeigen, dass der Anteil der Geimpften an Covid-19-Erkrankten und Verstorbenen geringer ist als der Anteil Ungeimpfter.

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